173. Den Mörder verrathen die Disteln.

[112] Bei Hohenzell, einem Dorfe in der Nähe der Stadt Schlüchtern, liegt ein Acker, der »das Beinert« heißt. Dieser Acker liefert zwar auch Getreide, aber heute noch, wie von je her, zugleich eine Menge Disteln, die durchaus nicht auszurotten sind. Die Bauern[112] von Hohenzell erzählen sich darüber Folgendes: Als einmal in alter Zeit ein vermögender Bauer sich auf dem Acker befand, der ihm gehörte, kam ein Krämer daher gegangen, welcher ein Kästchen mit Geld trug. Der Bauer sah sich überall um und als er weit und breit keinen Menschen sah, griff er den Krämer an und obgleich dieser beweglich um sein Leben bat, so achtete der Bauer doch nicht darauf, sondern sagte zu ihm: »Du mußt sterben!« Der Krämer entgegnete: »Wenn du mich tödtest, so werden die Disteln auf deinem Acker dich einst verrathen.« Der Bauer sagte lachend: »Das ist sehr dumm gesprochen; Disteln haben keinen Mund.« Und er ermordete den Krämer, verscharrte ihn auf dem Acker und nahm das Geldkästchen mit sich. Aber der Mörder wurde seit dieser Zeit tiefsinnig; wenn er auf den Acker kam, schienen ihm die Disteln darauf immer größer und drohender zu werden und wenn sie im Abendwinde schwankten, meinte er zu hören, wie sie ihm zuzischten: »Du bist ein Mörder!« So waren schon mehrere Jahre vergangen; der Bauer hatte Waizen auf diesem Acker aufgebunden und einige Nachbarn, die ihm arbeiten halfen, betrachteten ihn kopfschüttelnd, weil er verstört und nachsinnend auf einer Garbe saß. »Warum schwatzest du denn nicht, Hannes?« riefen sie ihm zu. Er war sehr in Gedanken und versetzte: »Das darf ich nicht sagen, und die Disteln, Gott sei Dank! können nicht sprechen, sonst würden sie mich verrathen.« Die Bauern erwiderten ihm: »Was würden sie denn verrathen?« Er war noch mehr in Gedanken als vorher und antwortete: »Ei, daß ich den Krämer hier ermordet und eingescharrt habe.« Sogleich ergriffen die Bauern den Mörder und überlieferten ihn der Obrigkeit, die ihn auf der Stelle hinrichten ließ, wo der Krämer sein Leben hatte lassen müssen. Der Acker aber heißt seitdem das Beinert, wegen der Gebeine des Krämers, die dort ausgegraben wurden.

Mündlich; mitg. v.H. Dr. Bernstein.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXII112-CXIII113.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen