19. Frau Holle.

[15] Welches Kind in Hessen kennt nicht die Frau Holle und die artigen Märchen, die von ihr erzählt werden? Und in welchem Dörfchen hört man nicht sagen: »Frau Holle stäubet ihr Bett!« wenn im Winter die Schneeflocken in den Lüften tanzen? Wer aber die Frau Holle recht kennen lernen will, der muß zum Weißner wandern, dessen gewaltiger Rücken hoch über die Berge hinausragt, die um ihn herum wie Trabanten stehen, zwischen der Werra, der Eisenacher und Allendörfer Straße.

Den Weißner besuchen alljährlich viele Hundert Menschen aus der Nähe und Ferne. Die Einen kommen der schönen und weiten Aussicht wegen, die man von seinem Gipfel hat, denn das Auge reicht bei klarer Luft bis zum Brocken, zur Wartburg und Milseburg, bis zum Inselsberg und Odenberg und bis über die waldeckschen und paderbörnschen Gebirge hinaus, bis zum[15] großen Christoph über Wilhelmshöhe, und bis zu den Gleichen und zur Plesseburg. Andere suchen nach den schönen, zum Theil seltenen Pflanzen, die über den frischen Matten und aus dem grauen Felsengebröckel aufschießen und einen gewürzigen Duft um sich verbreiten. Die Dritten suchen nach Steinen und Erzen in den Stollen und wilden Felsenpartien und die Vierten forschen in den uralten Sagen, Formen und Namen droben auf dem Berge über längst vergangene dunkle Zeiten nach. Die Fünften endlich, das sind die Bauern und Bäuerinnen aus den umliegenden Dörfern, die ziehen alljährlich am goldenen Sonntag (Sonntag nach Pfingsten) hinauf und erfreuen sich, nach alter Sitte, bei Musik und Tanz.

Und die, welche nach den alten Sagen, Formen und Namen forschen, betrachten die Kalbe auf der Ostseite der Bergfläche, die von bemoosten Felsblöcken ganz übersäet ist und einen der höchsten Punkte des Weißners bildet; dann den ebenen, von Baumgestrüpp umgebenen Platz darunter, den die Leute den Schlachtrasen nennen, den Gottesborn daneben und die nahegelegene Moorwiese, in welcher oft Pferde versunken sein sollen; dann in der Moorwiese den kleinen See, welcher Frauhollenteich heißt, früher über die ganze Wiese sich erstreckt haben und unergründlich tief gewesen sein soll; auch besehen sie sich den uralten Steindamm, der wie ein Ring sich um Teich und Wiese schlingt; unter dem Teiche die Teufelslöcher, auch die Runenwiese; am westlichen Abhang die Kitzkammer mit ihren Basaltsäulen, auf der entgegengesetzten Seite den Altarstein und endlich das tiefe, gegen die Werra hin ausmündende Höllenthal mit seiner wilden, stillen Schönheit. Auch findet sich im Felde des Dorfes Lautenbach, das am westlichen Fuße des Weißners liegt, ein Opfergraben.

Früher sprach man in dieser Gegend noch mit ehrfurchtsvoller Scheu von der Frau Holle, wie von einem höheren Wesen, und[16] das Volk liebte und fürchtete sie. Doch davon hat sich Vieles verloren, manche Sage ist untergegangen und auch die Lieder, welche noch im vorigen Jahrhundert bei der Flachsbereitung von den Bäuerinnen in einer Sprache gesungen worden sein sollen, von welcher man wenig mehr als den Namen der Frau Holle verstanden, sind längst verklungen.

Hören wir nun, was von den alten Sagen am Berge noch übrig geblieben ist.

In dem Frauhollenteiche hat Frau Holle ihre Wohnung. Nach alter Leute Erzählung ward sie zuweilen um die Mittagsstunde badend darin gesehen. Bald zeigt sie sich als schöne weiße Frau in oder auf der Mitte des Teiches, bald ist sie unsichtbar und man hört blos aus der Tiefe herauf Glockengeläute und geheimnißvolles Rauschen. Was sie unten im Teiche hat, Kuchen und schöne Gewänder, Obst und Blumen, die in ihrem sonnigen Garten wachsen, gibt sie gern Denen, die ihr begegnen und ihr zu gefallen streben. Frauen, die zu ihr in den Brunnen steigen, macht sie gesund und fruchtbar. Aus ihrem Brunnen kommen die neugebornen Kinder und sie trägt sie daraus hervor. Aber sie zieht auch gern Kinder hinein, die ihm nahe treten; die guten macht sie zu Glückskindern, die bösen zu Wechselbälgen. Sie hält sehr auf Ordnung und häuslichen Fleiß. Mägde, die schon früh Morgens in reingescheuerten Eimern Wasser zur Küche trugen, fanden oft Geldstücke darin. Faule Spinnerinnen bestraft sie, indem sie ihnen den Rocken besudelt, das Garn wirrt oder den Flachs anzündet; fleißigen hingegen schenkt sie Spindeln und spinnt selbst für sie über Nacht, daß die Spulen des Morgens voll sind. Faullenzerinnen zieht sie im Schlaf die Bettdecke ab und legt sie nackend aufs Steinpflaster. Die unartigen Kinder straft sie mit der Ruthe, wenn sie zu Weihnachten kommt, den gehorsamen aber bringt sie Spielzeug mit und Aepfel und Nüsse.[17]

Wenn es am Weißner nebelt, besonders wenn einzelne Wolken daran hinziehen, so hat Frau Holle ihr Feuer im Berge; wenn es schneit, schüttelt sie ihr Bett, davon die Federn in der Luft fliegen.

Jährlich zieht sie im Lande umher und verleiht den Aeckern Fruchtbarkeit; aber sie erschreckt auch die Leute, wenn sie durch den Wald fährt, an der Spitze des wüthenden Heeres. Oft erscheint sie auch als tückisch und neckend, indem sie den Menschen, besonders den Weibern, das Haar verwirrt und zerzaust; daher heißen die mit verworrenen Haaren »Hollerkopf«, und die Leute sagen: Dein Haar ist »hollerich« oder »verhollert«.

Mündlich. – Br. Grimm, d. S. 4 u. 6. – Schmincke in der Zeitschr. des Vereins für hess. Gesch. etc. IV. 103. – v. Münchhausen in Justi's Denkw. II., 161.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. XV15-XVIII18.
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