196. Der Weinkeller im Heiligenberge.

[126] Am Heiligenberge, bei Felsberg, der noch die Ueberreste eines lange zerstörten Schlosses auf seinem Haupte trägt, bemerkte einst ein Schäfer, als er mit seiner Heerde droben weidete, ein Loch in den Steinen, aus welchem eine Menge Mäuse, eine hinter der andern, herausliefen und eben so wieder hineinschlüpften. Er bohrte das Loch mit seiner Schippe ein wenig größer, riß ein paar Steine aus dem moosbedeckten Boden und sah hinein; aber nichts als schwarze schweigende Finsterniß war da. Allgemach bemächtigte sich seiner der Gedanke, daß Schätze unten verborgen liegen könnten, und er beschloß, nächsten Tages ein Brecheisen von Haus mit zu nehmen. Und das that er auch; nach kurzer Anstrengung war[126] das Steingeröll weggeräumt und bald lag eine Mauer mit einem Kellerloch offen. Nun stieg er durch das Loch in ein Gewölbe, in welchem mehrere große Weinfässer standen, aber sowie er die Fässer berührte, fielen die eichenen Planken in Staub und Asche zu Boden und der Wein stand da in seiner »eigenen Haut«. Neugierig bohrte der Schäfer die Kruste (des Weinsteins) an; aus allen ergoß sich eine Flüssigkeit, die in kurzer Zeit einen solchen Wohlgeruch in dem Keller verbreitete, daß der Schäfer ganz betäubt und taumelig davon wurde und kaum noch das Kellerloch wieder gewinnen konnte. Nachdem er eine Zeit lang oben gelegen und von seiner Betäubung sich erholt hatte, ging er nach Gensungen und erzählte im Dorfe, was ihm begegnet war. Da dauerte es denn gar nicht lange, so waren die Bauern und Bäuerinnen mit Krügen auf dem Wege nach dem Heiligenberge, um sich von der wohlriechenden Flüssigkeit zu holen; aber wie sie hinaufkamen, war längst Alles ausgelaufen und der schöne Geruch verflogen.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXXVI126-CXXVII127.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen