195. Wein in seiner eignen Haut.

[125] Bekanntlich setzt der Wein auf dem Lager Weinstein ab, der, eine harte Kruste um die Flüssigkeit bildend, von Jahr zu Jahr stärker und endlich dick genug wird, den Wein in sich festzuhalten, wenn durch die Länge der Zeit und durch Einwirkung der Feuchtigkeit[125] des Kellers die Planken des Fasses faul und morsch werden und abfallen. An manchen Orten ist dem Volke der Weinstein unter dem poetischen Namen »eigene Haut« des Weines bekannt1.

In der Nähe von Kirchbracht, bei Birstein, lag ehemals ein Kirchdorf Dietrichshain, darunter, in einem Seitenthälchen, der Dietrichshof und auf der schroff sich gegenüber erhebenden Anhöhe die Dietrichsburg. Von dieser Burg sind nur die Keller noch übrig und die Gegend umher heißt davon der »alte Keller.« Vielfache gespenstige Erscheinungen beschäftigen die Phantasie der Umwohner. Bald ist es eine riesige Männergestalt im Priestergewande, bald eine Nonne und bald eine liebliche Schaffnerin, welche den sich Nahenden zu bethören und zum Genusse des im Burgkeller in seiner »eignen Haut« liegenden Weines einzuladen suchen.

Landau Kurhessen 615.

1

Vergl. Nr. 89 u. 196.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXXV125-CXXVI126.
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