208. Die Hunde.

[138] Andere Auffassung.


In der Gegend von Niedenstein wohnte in sehr alter Zeit ein reicher Edelmann, der fleißig auf die Jagd ging und daheim ein schönes aber stolzes Weib hatte. An einem Morgen, da die Edelfrau allein zu Hause war, klopfte eine arme Frau, welche ein Kind auf dem Arme, ein anderes an der Hand hatte und ein drittes unter ihrem Herzen trug, an die Thür und bat um ein Almosen. »Packt Euch!« rief die hartherzige Edelfrau. »Was braucht Ihr armes Volk so viele Kinder zu haben, wenn Ihr sie nicht ernähren könnt!« Die Frau wandte sich ab und sagte, indem sie ging: »Möchten Euch doch sieben auf einmal beschert werden!«

Wirklich kam die Edelfrau nicht lange nachher nieder und gebar sieben Knaben auf einmal. In der Angst ihres Herzens befahl sie ihrer Magd, sechs von den Jungen in einen Korb zu thun und ins Wasser zu tragen, ehe ihr Mann nach Hause käme; wenn unterwegs Jemand frage, so möge sie nur sagen, sie habe junge Hunde in dem Korbe, welche ersäuft werden sollten, aber bei Leibe den Deckel nicht aufmachen.

Die Magd that wie ihr befohlen war; allein das Schicksal[138] wollte, daß der Erste, der ihr begegnete, der Edelmann sein mußte, der eben von der Jagd heimkehrte. »Was trägst Du in dem Korbe?« fragte er, und die Magd erwiederte verlegen: »Junge Hunde, welche die Herrin mir befohlen hat ins Wasser zu werfen.« –»Laß mich die Hunde sehen,« sagte der Edelmann. Mochte nun auch die Dirne Ausreden machen und sich sträuben, so viel sie wollte, es half ihr nichts, und sie mußte endlich den Korb öffnen. Wie erstaunte der Edelmann, als er statt der Hunde sechs gesunde Knaben erblickte, welche ihre Aermchen nach ihm ausstreckten und ihn mit ihren großen blauen Augen bittend ansahen. Er zwang der Magd ihr Geheimniß ab und ließ sie schwören, daß sie daheim erzählen wolle, sie habe ihren Auftrag ausgerichtet; dann nahm er den Korb und ging ins nächste Dorf zum Pfarrer. »Wollt Ihr mir sechs junge Hunde taufen?« fragte er den frommen Mann. Dieser entsetzte sich ob solcher Zumuthung und schickte den Edelmann wieder fort. So ging es ihm auch bei einem Zweiten. Der Dritte aber, zu dem er hinkam, war der Pfarrer zu Metz und dem mochte eine Ahnung von der Sache gekommen sein, denn er erklärte sich bereit die Hunde zu taufen. Die Knaben erhielten sämmtlich den Beinamen »Hund« und dem Prediger zu Metz schenkte der Edelmann einen Zehnten, der noch heutigen Tages bei der Pfarre ist und der »Hundezehnten« heißt.

Die sechs Knaben gab der Edelmann einzeln in Pflege, sorgte aber dafür, daß sie stets ebenso gekleidet einhergingen, als seine Frau den daheim behaltenen siebenten kleidete. Als sie nun herangewachsen waren, berief er sie eines Tages allesammt auf sein Schloß. Die stolze Frau erschrack sehr bei ihrem Anblick, noch mehr aber als der Eheherr fragte, was wohl eine Mutter verdiene, die sechs solcher prächtigen Jungen ins Wasser werfen lasse? Doch faßte sie sich schnell und erwiederte keck: »Die verdient in ein Faß mit Nägeln gesteckt und einen Berg hinabgerollt zu werden.« –[139] »Nun wohl,« sagte der Edelmann, »Du hast Dein eignes Urtheil gesprochen, denn das sind Deine Kinder, die mir ein glücklicher Zufall von dem Tode zu retten gestattete, welchen Du ihnen zugedacht hattest.« Und er ließ das Urtheil an ihr vollziehen.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXXXVIII138-CXL140.
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