210. Der Stadtwald von Wolfhagen.

[140] Jedes Kind in Wolfhagen kennt die kluge und fromme Frau Agnes von Bürgel und weiß von ihr zu erzählen, wie sie einmal einen Grafen von Waldeck an der Nase herumgeführt, wie sie, gleich der heiligen Elisabeth, ihre Wäsche in die Luft hing ohne Seil und wie sie den Kirchthurm hat bauen lassen und endlich, ehe dieser fertig gewesen, gestorben ist. Am liebsten erzählen sie aber das erste Stückchen, wie sie den Waldecker überlistet hat und das ging nämlich so zu:

Die ganze Strecke, auf welcher jetzt der Wolfhager Stadtwald steht, war vormals Land und gehörte den Grafen von Waldeck, die sie aber der Agnes von Bürgel einmal verpfändet hatten.[140] Nun benutzte die Edelfrau lange Jahre hindurch diese Länder ruhig und ungestört, bis es einst einem Grafen von Waldeck einfiel, sie zurückzufordern. Sei es nun, daß der Wiederlösungstermin versäumt war, oder aus welchem andern Grunde, die Pfandherrin mochte nicht so leichten Kaufs die schönen Güter wieder aus den Händen lassen und wollte sich zur Abtretung anfangs gar nicht verstehen. Da kam es denn zum Proceß und der brachte beiden Theilen Kosten und Aerger im Uebermaß. Und die Edelfrau wurde dessen endlich müde; sie ließ dem Grafen sagen, daß sie zum Vergleich geneigt sei; die Länder wolle sie noch einmal aussäen, nach der Ernte möge er dieselben dann in Gottes Namen in Besitz nehmen. Den Grafen freuete der Vorschlag, der ihm über alle Erwartung günstig schien, und so säumte er nicht den Vergleich fest zu machen, damit die Edelfrau nicht wieder davon abgehen könne, wenn sie ihn bereue. Aber daran dachte Agnes nicht, sie ließ vielmehr die Länder pflügen und ausstellen, und das nicht etwa mit Getreide oder Hülsenfrüchten, auch pflanzte sie keine Kartoffeln darauf, denn die kannte man dazumal bei uns noch nicht; nein, sie ließ – Eicheln in den Boden legen.

Indessen wurde dem Grafen die Zeit lang, ehe der Herbst kam; als aber endlich die Bauern anfingen einzuscheunen, da ritt er hinaus auf die Pfandländer, um zu sehen, ob auch Frau Agnes schon die Ernte besorgt habe. Ach, welche Ueberraschung erwartete ihn da! Und wie riß er die Augen auf, als er die Länder mit jungen Eichenpflänzchen überdeckt fand, als er mit Ingrimm sich gestehen mußte, daß ein Weib ihn überlistet habe! Er brauste auf und fluchte wie ein Heide, und konnte sich gar nicht zufrieden geben; alle Hoffnung auf den Besitz der Pfandländer war nun dahin, denn die Ernte durfte er nimmer zu erleben hoffen. Aber was war zu machen? Er mußte seinen Aerger in sich fressen und wieder heimreiten.[141]

Die Eicheln waren herrlich aufgegangen und es dauerte nicht lange, da stand ein junger Wald an der Stelle; die Bäumchen wurden immer größer und größer und stehen noch bis auf den heutigen Tag. Als nachmals die Edelfrau ihr Sterbestündlein herannahen fühlte, vermachte sie zuvor ihre Gerechtigkeit an dem Walde der Stadt Wolfhagen, und die hat ihn denn noch immer zu ihrem Stadtwalde.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXL140-CXLII142.
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