211. Der Reinhardswald.

[142] Vor vielen hundert Jahren lag eine große Zahl von Dörfern und Höfen im Reinhardswalde, von denen nichts mehr übrig ist als ihre Namen, die an Feld- und Waldorten haften blieben und Zeugniß geben, daß hier der Boden in früher Vorzeit mehr angebaut gewesen als jetzt. Es ist zwar sprüchwörtlich geworden, daß man sagt »so alt wie der Reinhardswald,« um das hohe Alter einer Sache zu bezeichnen, aber die Sage weiß auch von einer Zeit zu erzählen, da dieser Wald noch gar nicht vorhanden war.

Ein mächtiger Graf, Reinhard mit Namen, herrschte einst in der Gegend zwischen der Diemel und Weser; aber er führte ein arges Leben, ließ sich mancherlei Bedrückungen und Ungerechtigkeiten zu Schulden kommen und wurde endlich des Straßenraubes, der damals für ein ritterliches Gewerbe galt, angeklagt und zum Tode verurtheilt. Da half kein Ansehn der Person, weder Bitten noch Drohen: sein Leben war verwirkt und sein Hals dem Schwerte des Henkers verfallen. Nur so viel erlangte er endlich nach vielen erfolglosen Vorstellungen, daß die Vollstreckung des Urtheils verschoben wurde. Er hatte gebeten, man möge ihn noch einmal seine Hufen bestellen und ernten lassen; das war ihm auch, seines Weibes und seiner Kinder wegen, gestattet worden. Aber der Graf[142] verbarg unter der einfachen Bitte einen listigen Anschlag zu seiner Rettung, der ihm auch so vollkommen gelang, daß er ein alter Mann wurde und endlich eines natürlichen Todes starb, ohne daß ihm der Henker etwas anhaben konnte. Er hatte nämlich seine Hufen mit Eicheln besäet und lebte nun ruhig und sorglos, in der gewissen Ueberzeugung, daß er längst zu den Vätern heimgegangen sein würde, ehe die Saat zur Ernte reif wäre. Und darin hatte er sich denn auch nicht verrechnet, denn der Wald steht noch bis auf diese Stunde und man nannte ihn später nach dem Grafen Reinhardswald.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXLII142-CXLIII143.
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