214. Die Glocke von Harle.

[144] Zwischen Felsberg und Harle liegt am Ufer der Edder ein Anger, welcher alljährlich von dem austretenden Flusse zur Zeit der Schneeschmelze überschwemmt wird. Die Einwohner beider Orte haben gemeinschaftlich Hutegerechtsame daselbst. Eines Tages bemerkte der Felsberger Hirt, daß eins seiner Schweine emsig den Rasen aufwühlte; er eilte hinzu, um es davon zu jagen, stieß von ungefähr an der Stelle seinen Stock in die Erde und vernahm einen hellen Klang, wie von Metall. Neugierig fing er nun selbst an zu wühlen und bald gewahrte er zu seiner Verwunderung, daß irgend ein metallenes Gefäß hier vergraben war. Er rief seinen in der Nähe hütenden Kameraden von Harle herbei und Beide setzten das Graben so lange fort, bis der bauchige Helm einer großen Glocke zu Tage lag. Dann eilten sie, Jener nach Felsberg, dieser nach Harle, um den Fund zu berichten und Arbeiter und Werkzeuge herbeizuschaffen, mit deren Hülfe es ihnen möglich würde, die Glocke völlig auszugraben und aus der Tiefe zu heben. Da sich aus beiden Orten Männer genug einfanden, so war die Arbeit bald gethan. Doch nun entstand Streit darüber, wem denn der Fund eigentlich zukäme? Der Anger war gemeinschaftliches Territorium; die von Felsberg wie die von Harle behaupteten hartnäckig ihr Anrecht auf die Glocke, und so kam man endlich überein, die Aeltesten aus beiden Gemeinden zum Schiedsgericht zu berufen. Andern Tags versammelten sich die Aeltesten auf dem Anger und da sie fanden, daß das Recht auf beiden Seiten gleich groß sei, so beschlossen sie ein blindes Pferd mehrmals um die Glocke zu führen und es dann frei laufen zu lassen. Schlage es die Richtung nach der Stadt ein, so sollten die Felsberger die Glocke haben, laufe es aber dem Dorfe zu, dann sollten die von Harle den Fund behalten. Der Spruch der Aeltesten ward verkündet,[145] ein blindes Pferd herbeigeholt und dreimal um die Glocke geführt, dann gab ihm der Führer einen Schlag und ließ es laufen. Das Thier wendete ein paar Mal, als ob es zweifelhaft gewesen wäre, wem es den Sieg gönnen sollte. Schon glaubten die Felsberger gewonnen zu haben, als es noch einmal umsprang und geraden Wegs im Galopp nach Harle lief. Da ward die Glocke den Bauern von Harle zugesprochen. Es ist dieselbe, welche noch heute auf dem Kirchthurme hängt, und ihr Geläute klingt so melodisch, daß sie weit über die nächste Umgegend hinaus als Merkwürdigkeit bekannt geworden ist.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXLIV144-CXLVI146.
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