218. Der Schneißzug.

[147] Vor Zeiten war es üblich, daß die Landgrafen von Hessen die Grenzen ihres Gebiets bereisten. Von diesen Grenz- oder »Schneißzügen«, welche von den Grenzbewohnern als ein Freudenfest angesehen wurden, ist nur noch eine dunkle aber frohe Erinnerung übrig geblieben. Wenn die »Schneiße« gezogen werden sollte, rückten schon mit Tagesanbruch Alt und Jung aus. Die Förster, Flurschützen und die, welche sonst den Lauf der Grenze genau kannten, machten den Vortrab, hinter ihnen ritt der Landgraf mit seinem Gefolge, der Amtmann des betreffenden Amtsbezirks, der Rentmeister und, stieß die Flur einer Stadt an die Grenze, auch der Bürgermeister und gesammte Rath. Auf diese folgte dann ein langer Zug von Greisen, Männern und Knaben. Die Knaben nahm man mit, auf daß sie frühe mit dem Laufe der Grenze bekannt würden. Von dem waldeckschen Dorfe Bühle lag ein Haus theilweise auf hessischem Boden, nämlich in der Wolfhager Stadtgemarkung; die Grenze ging durch die Küche. Sagen erzählen, daß ein Loch in die Wände gehauen wurde und der ganze Zug, vom Fürsten bis zum dümmsten Jungen, hindurchkriechen mußte.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXLVII147-CXLVIII148.
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