227. Tod des letzten Schonenbergers.

[154] Es sind schon viele Jahre, da wohnte auf dem Schöneberge, bei Hofgeismar, ein sehr reicher Mann, der war ein kleiner König und besaß Schlösser und Dörfer, und Höfe und Städte, und er hieß nach dem Berge, auf dem er lebte, der Herr vom Schöneberge. Noch lieber aber als alle seine vielen Güter war ihm seine Frau; die war ein junges Weib und gar schön, und alle Männer, die sie sahen, konnten die Augen nicht von ihr abwenden. Und da starb der Herr vom Schöneberge und hinterließ nur Ein Kind, das war ein Knabe von zwölf Jahren. Da mußte die Frau viel weinen und der Knabe weinte auch.

Nun nahm die Frau einen Lehrer an, daß der Knabe die nöthige Bildung empfinge und würde wie sein Vater. Der Lehrer kam auf das Schloß und wohnte dort und sah die junge Frau gern und er ging mit dem Gedanken um, sie zu heirathen und ihre Besitzthümer dabei zu erwerben; die Frau aber wies ihn zurück. Da ging er einmal in der Abenddämmerung mit dem Junker in den Wald, der um die Schloßmauer noch zu sehen ist. Der Weg, den sie zusammen gingen, lauft nahe an der Mauer um einen Brunnen, der sehr tief und gemauert ist, und den keine Befriedigung einschloß. Als sie bei den Brunnen gekommen waren, da nahm der Lehrer den Junker und warf ihn in das Wasser und kam nach dem Schloße zurück und sagte, er wüßte nicht, wo der Junker geblieben wäre.

Schon wurde es Nacht und ganz finster und der Wind brauste und sauste durch die Bäume, und der Junker war immer noch nicht zu Hause. Seiner Mutter graute es; sie fragte, sie suchte, sie rief ihm – aber der Knabe war nicht zu sehen und nicht zu hören. Sie schickte die ganze Dienerschaft aus, ihn im Walde mit Laternen zu suchen, aber der Junker war nicht zu finden. Am[155] andern Morgen schickte sie nach Geismar in die Schule, wo die ganzen Schulkinder versammelt waren und ließ sie bitten, daß sie kämen und hülfen ihr im Walde suchen. Die Schüler hatten den Junker lieb und liefen alle zusammen in den Wald und suchten mit allem Fleiße in den Gebüschen. Sie riefen ihn auch bei Namen, aber das Echo der Berge antwortete und nicht der Junker. Auf einmal kam einer der Schüler oben auf dem Berge an den Brunnen und sah das kleine Hütchen, welches der Junker zu tragen pflegte, auf dem Wasser schwimmen. Da wußten sie, daß der Junker in den Brunnen gestürzt war und holten das Hütchen heraus und brachten es der Mutter. Die Mutter aber hatte keine leibliche Kinder mehr und vermachte den Schulkindern zu Geismar all ihr Gut. Aus den Zinsen werden auf Ostermittwoch die Stutzwecke gebacken und ausgetheilt, welche die Kinder noch immer zu derselben Tageszeit empfangen, wo sie das Hütchen gefunden haben.

Falkenheiner in d. Zeitschr. für hess. Geschichte etc. I. 359. – Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLIV154-CLVI156.
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