228. Der letzte Bilsteiner.

[156] Dem alten, über dem rechten Werra-Ufer liegenden Schlosse Fürstenstein gegenüber mündet das tiefe, wilde, von starren Felswänden gebildete, dabei mit Wald und Wiesengrün anmuthig prangende Höllenthal, in dessen Mitte eine gewaltige Felsmasse der Grauwacke nackt und klippig weit vorspringt. Auf ihrem Rücken stand in schwindlicher Höhe die nur noch in wenigen Trümmern sichtbare Stammburg der Grafen von Bilstein, welche den ältesten Dynastengeschlechtern der Werragegend beigezählt wird, aber schon im vierzehnten Jahrhundert erlosch. Eine schauerliche Sage hat das Andenken an den Untergang des letzten Grafen von Bilstein bewahrt. Zahlreiche Feinde hatten sich gegen ihn verbündet. Sie belagerten ihn lange vergeblich, bis mehrere erfolglose Stürme und[156] die von der Natur erhöhete Festigkeit des Schlosses sie überzeugte, daß dieses mit Gewalt nicht zu gewinnen sei. Dann nahmen sie zu einem anderen, langsameren, aber sicheren Mittel ihre Zuflucht. Sie schlossen den Bilstein enge ein und warteten müßig des Zeitpunktes, wo, von Hunger und Noth gedrängt, ihr stolzer Gegner sich ihnen auf Gnade oder Ungnade ergeben mußte. Allein es verstrichen Wochen und Monden und die Belagerten zeigten sich fortwährend munter und guter Dinge; sie scherzten und lachten lustwandelnd auf den breiten Mauern der Burg, als spotteten sie der Gefahr, die sie umgab. Die Feinde erschöpften sich in Argwohn und Vermuthungen; aber ihrer verdoppelten Wachsamkeit gelang es doch eines Tages, die Ursache dieses zuversichtlichen Gebahrens der Bilsteiner zu entdecken. Am Fuße des Burgbergs lag und liegt heute noch eine Mühle, deren Räder durch die im Höllenthal herabkommende Berka getrieben werden. Von der Mühle führte ein verborgener unterirdischer Gang hinauf zum Schlosse und der Müller versah auf diesem Wege die Belagerten mit Lebensmitteln. Nach dieser wichtigen Entdeckung hörte plötzlich alle Zufuhr auf; die Vorräthe gingen zur Neige, mit ihnen der Muth und die Zuversicht der Bedrängten. Es blieb am Ende nur die Wahl zwischen Ergebung oder Tod. Schon freueten sich die ungeduldig lauernden Feinde ihres Triumphes, den Grafen in ihrer Gewalt zu sehen, als an einem Morgen ein lange nicht bemerktes Leben und Bewegen auf den Mauern ein Ereigniß von Bedeutung, wohl gar die Uebergabe, erwarten ließ. Ein Wagen ward auf die Mauer gebracht und ein Paar wildschnaubende Rosse angeschirrt. Dann stieg ein Ritter in den Wagen – es war der letzte Graf von Bilstein. Weib und Tochter folgten ihm und als beide an seiner Seite Platz genommen, trieb er mit lautem Zuruf die Pferde an zur schrecklichen Todesreise. Wenige Augenblicke nachher bedeckten da, wo der klippenreiche Schloßberg fast senkrecht hinabfällt,[157] drei menschliche Leichen, die todten Rosse und die Trümmer des Wagens den Boden des Thales.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLVI156-CLVIII158.
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