244. Der Liebenbach.

[170] Zu Spangenberg lebte vor langer Zeit ein reicher Bürger, der eine einzige Tochter hatte. Aber er war eben so hartherzig und gefühllos wie seine Geldsäcke, und ward sehr zornig, als er erfuhr, daß seine Tochter ein Liebesverständniß mit einem braven, aber armen Burschen der Nachbarschaft unterhielt. Da halfen nun weder Bitten noch Thränen, denn obgleich der Vater seinem einzigen Kinde schon etwas zu Gefallen that, so blieb er doch in diesem Punkte unerbittlich und verlangte einen reichen Eidam. Aber wie die Frühlingssonne auch die härteste Eisdecke schmilzt, so erweichten endlich die stillen Thränen des Mädchens des Vaters hartes Herz, und er gab zu, daß sie den Geliebten zur Ehe nehme, wenn sie das Wasser eines Quells, der eine halbe Stunde ostwärts von Spangenberg hervorsprudelt, bis in die Stadt leiteten, die seither immer an gutem Trinkwasser Mangel gelitten hatte. Und freudig griffen die Liebenden zu Spaten und Hacke und begannen das mühselige Werk. Jeden Morgen fand sie die Sonne schon emsig an der Arbeit und wenn die Abenddämmerung die langen Schatten der Bäume auf den Boden zeichnete, kehrten sie heim, um durch kurze Ruhe zu neuen Anstrengungen sich zu stärken. Endlich war das Werk vollendet; das kristallhelle Wasser des[170] Quells durchrieselte die Gassen der Stadt und die Bürger empfingen mit Jubel das Paar und führten es wie im Triumphe nach der Kirche, wo der Priester bereit stand, es zur Ehe einzusegnen. Vor dem Altare angelangt, fielen Beide einander in die Arme und – sanken entseelt auf die Stufen nieder. Denn die übermäßigen Anstrengungen, die sie, von Hoffnung und Liebe gestählt, bis dahin glücklich überwunden, hatten alle Kräfte ihres Körpers verzehrt und endeten nun zugleich mit ihrem Leben.

Da erfüllte Trauer Aller Herzen und die Bürger begruben nach drei Tagen das Paar und nannten zur dankbaren Erinnerung den Quell fortan »Liebenbach«. – Man sagt auch, wer davon trinke, ziehe damit den Wunsch ein, in Spangenberg ewig zu bleiben.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLXX170-CLXXI171.
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