247. Die blinde Gräfin.

[172] Einer von den alten Thürmen, welche noch über die Häuser von Grebenstein emporragen, heißt der Jungfernthurm, und man erzählt, daß ihn eine blinde Gräfin auf ihre Kosten habe bauen lassen, zu welchem Zwecke weiß indessen Niemand mehr zu sagen. Als der Thurm vollendet war, fühlte die Blinde ein große Verlangen, ihn einmal zu sehen, und sie bat den lieben Gott, ihr auf kurze Zeit die verlorne Sehkraft zurückzugeben. Und siehe! da[172] theilte sich plötzlich die Haut, welche auf ihren Augen lag, sie sah den Thurm und lobte seinen guten und festen Bau und – ihre Augen schlossen sich wieder und die Gräfin war blind wie zuvor. Aus Dankbarkeit für diese Gnade des Himmels setzte sie den armen Kindern der Stadt ein Vermächtniß aus, wonach dieselben noch bis auf diesen Tag in den Gemächern des Thurmes freien Schulunterricht erhalten.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLXXII172-CLXXIII173.
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