254. Der Blumenstein.

[180] Auf dem Blumensteine bei Rotenburg stand ein Schloß, dessen Bewohner mit den Rittern auf der nahen Hornungskuppe in engem[180] Freundschaftsbündniß standen. Sie trieben zusammen ein adelich Handwerk, das heißt: Straßenraub, und wenn ein Nachbar des andern Hülfe bedurfte, so bediente er sich nur eines Sprachrohrs und erhielt auf gleichem Wege die Antwort zurück. Besonders waren es aber die Ritter vom Blumenstein, vor denen Jedermann in der Gegend zitterte.

Einmal waren in dem Dorfe Höhnebach, das nicht weit vom Blumensteine liegt, die Mägde zur Spinnstube zusammengekommen und sprachen just gegen Mitternacht von den gefürchteten Rittern. Da wettete eine kecke Dirne, daß sie allein zu dieser Stunde aufs Schloß gehen und eine Ziegel zum Wahrzeichen mitbringen wolle. Das muthige Mädchen macht sich sogleich auf den Weg. Die Nacht war düster und schauerlich. Doch furchtlos geht die Dirne weiter, bald hat sie den Schloßberg erreicht und da sie die Zugbrücke heruntergelassen findet, so schleicht sie in die Burg, nimmt eine Ziegel vom Hofe auf und will sich wieder entfernen. Plötzlich hört sie Pferdegetrappel dem Schlosse nahen und sie verbirgt sich hinter den Brunnen. Da sprengten über die Brücke viele Ritter auf weißen Rossen und in ihrer Mitte führten sie eine schöne Jungfrau, die sie geraubt hatten. Sie saßen auf dem Hofe ab, banden ihre Pferde an und gingen in die Burg. Die Magd aber bemerkte aus ihrem Versteck, daß unter den weißen auch ein schwarzes Pferd war, auf dem ein Bündel lag, und die Abwesenheit der Reiter benutzend, sprang sie auf, nahm das Bündel von dem schwarzen Pferde und floh über die Brücke, den Burgberg hinab. Indessen war sie noch nicht weit gelaufen, als sie abermals Pferdegetrappel hinter sich vernahm und einen Reiter auf dem schwarzen Rosse, der wahrscheinlich den Raub entdeckt hatte, ihrer Spur folgen sah. Da verließ sie schnell den Weg und verbarg sich im Walde, bis der Reiter vorüber war und erreichte endlich das Dorf wieder, wo sie den harrenden Gefährtinnen Ziegel und Bündel[181] wies. In dem Bündel aber waren kostbare, seidene Gewänder, wie sie die reichen Frauen damals zu tragen pflegten.

Sonntags darauf war Tanz in dem Dorfe und auch die muthige Dirne war gekommen, angethan mit einem der seidenen Gewänder, die sie in dem Bündel gefunden hatte, und sie sah aus wie ein Edelfräulein. Es hatte sich aber auch ein Ritter eingefunden, der trat auf sie zu, um sie zum Tanz aufzufordern; wie sie jedoch den Ritter ansah, erkannte sie in ihm denselben, der in jener Nacht auf dem schwarzen Rosse sie verfolgt hatte. Da wich ihr vor Schreck alles Blut aus dem Gesichte und sie fiel todt zu des Ritters Füßen nieder.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLXXX180-CLXXXII182.
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