257. Die Glocke läutet von selbst.

[183] Zu der Zeit, da Philipp der Großmüthige die Reformation in Hessen einführte, vertauschten auch die Bürger von Frankenberg den alten Glauben mit dem neuen, helleren und freudigeren, den der Wittenberger Doktor, Martin Luther, gelehrt hatte. Das nahmen ihnen besonders ihre Nachbarn im kölnischen Sauerlande übel, denn diese waren katholisch geblieben und machten sich eines Tages auf, Frankenberg zu erobern und zu zerstören. Die Frankenberger[183] lebten just damals mit aller Welt im tiefsten Frieden und ahnten das Schicksal nicht, welches ihnen bevorstand. Sie hatten zwar ihre Mauern und Thürme mit Wächtern besetzt, denn so war es vom Landgrafen allen Städten anbefohlen worden, aber auch den Wächtern fiel es im Traume nicht ein, daß ihnen die Gefahr so nahe sein könnte. So kamen die Feinde um 9 Uhr Abends unbemerkt vor der Stadt an und trafen ihre Vorkehrungen zu einem Ueberfalle. Da ertönte urplötzlich der Sturmglocke furchtbarer Hall und rief die sorglosen Bürger zur Wehr. Niemand war der Glocke nahe gekommen, sie hatte sich ganz von selbst in Schwung gebracht. Die Feinde, als sie das Gestürme hörten, glaubten sich verrathen und machten sich eilig auf den Rückzug.

Trotz ihrer Wächter wäre die Stadt verloren gewesen, hätte nicht im Augenblick der höchsten Gefahr die todte Glocke ihren metallenen Mund aufgethan. Noch heutigen Tages wird mit derselben, zur Erinnerung daran, jeden Abend um 9 Uhr geläutet.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLXXXIII183-CLXXXIV184.
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