259. Gudensberg wird verrathen.

[185] An dem Wege, welcher von Gudensberg nach Besse führt, zwischen der Stadt und dem Odenberge, steht ein altes, kaum noch erkennbares steinernes Kreuz, auf dem vor nicht gar langer Zeit noch eine unleserliche Inschrift zu sehen gewesen sein soll. Davon geht folgende Sage:

Im dreißigjährigen Kriege lag einmal der Feind vor der Stadt – die ehemals viel größer war als jetzt und bis zum Odenberge sich ausdehnte – und konnte sie lange nicht gewinnen. Da schlich sich eines Tages ein Bürger zum feindlichen Heerführer und erbot sich, die Stadt in Brand zu stecken, wenn ihm ein reicher Lohn dafür werde; und Beide schlossen darauf einen Pakt miteinander. Als es dunkel wurde, stiegen plötzlich in verschiedenen[185] Straßen zugleich blutrothe Flammen auf; der Feind benutzte die Verwirrung, die alsbald unter den bestürzten Bürgern entstand, erstürmte die Mauern und Gudensberg fiel ohne Widerstand in seine Gewalt.

Aber den schändlichen Verräther erreichte nachmals das verdiente Loos, denn ein Zufall brachte es an den Tag, daß die Stadt durch ihn in dieses Unglück gekommen. Sein böses Gewissen trieb ihn zur Flucht; allein schon am Odenberge wurde er eingeholt; seine ergrimmten Mitbürger fielen über ihn her, stachen ihm Augen und Ohren aus und begruben ihn dann lebendig an der Stelle, wo das alte Kreuz steht.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLXXXV185-CLXXXVI186.
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