260. Der Leichenzug.

[186] In einem Dorfe bei Frankenberg, das vor langen Jahren im Kriege zerstört und nicht wieder aufgebaut worden ist, war einmal große Noth; der Feind war in der Nähe und die Bauern fürchteten all' ihre Habe zu verlieren. Nun stand eben zu der Zeit ein Todter über Erde. Da verfielen sie auf den Gedanken, Alles, was sie an Geld und werthvollen Sachen besäßen, in den Sarg zu thun und denselben in Procession nach dem Kirchhof zu tragen. Gedacht, gethan! Der Pfarrer stellte sich an die Spitze und die Bauern folgten dem Sarge, als ob sie einen verstorbenen Nachbarn zu Grabe trügen. Der Feind ließ den Zug ungehindert vorüber; als er auf dem Kirchhofe anlangte, sprach der Pfarrer das Gebet und die Träger versenkten den Sarg in das Grab, das für den Todten bestimmt war. Das Dorf wurde zerstört, doch die Bauern hatten ihren Schatz gerettet.

Für diese Entweihung des Grabes läßt die Sage aber die Bauern schwer büßen, denn der Leichenzug, wie er damals war,[186] begegnete seitdem manchem Wanderer, der bei Nacht an der wüsten Stätte des Dorfes vorüber kam.1

Mündlich.

1

Diese Sage erinnert an die Weise, wie die Sachsen ihren Schatz retteten, als sie, nach Gerstenberger, bei Frankenberg geschlagen wurden. Die Stelle lautet: »Mit großer Macht zog Karl (der Große) dem Herzog Ludwig und den Christen zu Hülfe gegen die Sachsen. Deren Haufen lag einer zu Frankenberg und waren die Sachsen zu der Zeit über die Edder gegangen und sammelten sich zu Geismar, um die Christen zu bekriegen. Da das König Karl vernahm, zog er mit seinem Volke heimlich aus und lagerte sich gegen sie und Herzog Ludwig machte sich mit den anderen Christen stracks gegen sie auf.« Als die Sachsen Kunde davon erhielten, versenkten sie all' ihr Gold und Gut in einen Brunnen, daß sie es behalten möchten, darum heißt dieser Brunnen »Sachsenbrunnen«, und die Stelle, da der König lag, »Königsgraben«. Danach kamen die Christen an sie zwischen Frankenberg und Frankenau, stritten mit ihnen und gewannen den Streit und schlugen der Sachsen viel tausend todt. Da sprach Karl: »Die Feldmark soll gefreit und zehntfrei sein zu ewigen Zeiten!« Und dieselbe Stelle wird das »alte Feld« genannt. – Frankenb. Chronik bei Kuchenbecker etc., coll. V. p. 152. – Ich lasse jedoch dahin gestellt sein, ob Gerstenberger einer alten Sage, oder seiner zügellosen Phantasie nachgeschrieben hat.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CLXXXVI186-CLXXXVII187.
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