269. Sankt Wendel und die Diebe.

[191] Zu Steinhaus im Fuldischen lebte ein armer Mann, Hans Schwarz, der aus Holz und Stein künstlich allerlei Figuren formte und um kleinen Gewinn verkaufte. Besonders fand Sankt Wendelin, den er als Hirten darstellte, vielen Abgang, denn die Leute kauften ihn, wenn ihr Vieh krank war.

Nun kam einmal eine schreckliche Viehseuche über die Gegend und Sankt Wendelin erschien dem armen Künstler im Traume und forderte ihn auf, am Kreuzweg bei Steinhaus eine Kapelle zu bauen, daß sich das Sterben wende. Hans, nachdem er vom[191] Petersberger Probst Platz, Holz und Steine geschenkt erhalten, begann mit eignen Händen den Bau. Pfosten und Wände versah er mit zierlichem Schnitzwerk, bildete Heilige darauf und Thiere und allerlei andere Dinge, selbst Thurm und Glocke schnitzte er aus Holz und einen Stall mit Raufe und Krippe, mit Pferd und Kuh. Täglich kamen nun die Leute zur Kapelle, um Hülfe für ihr krankes Vieh zu erflehen und ließen die Ketten als Opfergabe zurück.

So war also das fromme Werk vollendet; doch der Künstler, der es geschaffen, blieb arm wie zuvor. Seine Frau besonders verdroß das und sie redete ihm zu, bei Nacht zur Kapelle zu gehen, die geopferten Ketten zu holen und zu Gelde zu machen. Hans folgte, wiewohl mit innerm Widerstreben, in der nächsten Nacht seinem Weibe dahin und sie beluden sich mit so vielen Ketten, als sie tragen konnten. Sie verbargen die Ketten in ihrer Kammer und legten sich zu Bett.

Kaum waren Mann und Frau eingeschlafen, als ein gewaltiges Getöse sie wieder erweckte. Sankt Wendelin stand vor ihrem Bette und forderte zornig seine Ketten zurück. Die Ketten aber flogen wie vom Wirbelwinde getrieben, klirrend in der Stube herum, zerrten das Ehepaar aus dem Bette und hingen sich ihnen wieder auf den Rücken und so mußten sie die Diebe noch in derselben Nacht in die Kapelle zurücktragen.

Chronik v. Fulda 1839 S. 51.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXCI191-CXCII192.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen