270. Der grün gewordene Pilgerstab.

[192] Eine Stunde nördlich von Hofgeismar, neben dem Dorfe Eberschütz, erhebt sich am rechten Diemelufer eine hohe und außerordentlich steile, mit Buchen bewaldete Felsenwand, auf deren höchstem, mit einem Walle umgebenen Punkte, der s.g. Klippe, man[192] eine köstliche Aussicht genießt. Hünenburg nennt das Volk die Ueberbleibsel der alten Befestigung droben, an die sich keinerlei geschichtliche Erinnerungen mehr knüpfen. Jährlich am Himmelfahrtstage wallfahrtet die (protestantische) Einwohnerschaft des Dorfes Eberschütz seit undenklichen Zeiten nach der Klippe, und auch von andern Orten in der Nähe schließen sich Viele dem Zuge an; oben singen sie dann ein Lied aus dem Gesangbuche und suchen heilende Kräuter. An diese merkwürdige Sitte schließt sich folgende Sage an: Zu der Zeit, als die Leute hier zu Lande noch alle Heiden waren, kamen sie an gewissen Tagen im Jahre auf der Klippe zusammen, um ihren Götzendienst zu feiern und das Gericht hier zu halten. Einstmals waren sie auch in dieser Absicht versammelt, als ein fremder Mann von ehrwürdigem Ansehen, mit einem Pilgerstabe in der Hand und in priesterlicher Kleidung, mitten unter sie trat und von dem einigen wahren Gotte zu predigen anfing und von Jesu, seinem eingebornen Sohne, der an eben diesem Tage vor langen Jahren zum Himmel aufgefahren sei. Schweigend und mit staunender Verwunderung hatten die Heiden eine Zeit lang dem fremden Manne zugehört. Als er aber von der Auferstehung Christi redete und ihren Glauben schalt, da entstand Murren und allgemeiner Unwille. Sie spotteten des Thoren, der ihnen diese Fabel von einem Wiedererstandenen erzählte, hießen ihn schweigen und bedroheten ihn endlich mit dem Tode. Doch unerschrocken betheuerte der heilige Mann die Wahrheit seines Glaubens, stieß seinen Wanderstab in die Erde und sprach: »Das Evangelium, welches ich euch verkünde, ist so wahr und zuverlässig, als ihr diesen dürren Stab durch Gottes Allmacht jetzt werdet Knospen und Blätter treiben sehen.« Mit diesen Worten hob er die Hände gen Himmel – und staunend sahen die Heiden das Wunder geschehen. Die trockne Rinde des Stabes gewann Saft, trieb alsbald schwellende Knospen, welche sofort sich öffneten und Blätter[193] hervorbrechen ließen, die sich wieder zu frischen Zweigen verlängerten. Alle glaubten nun an die Lehre des frommen Mannes, schwuren das Heidenthum ab und ließen sich taufen.

Falkenheiner, Gesch. v. Hofgeismar 248.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CXCII192-CXCIV194.
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