284. Die Brautfahrt.

[203] Landgraf Otto's Söhne, Heinrich und Ludwig, blieben Herren des Landes, da ihr Vater gestorben war, und jeder hätte gern das Regiment für sich allein gehabt, denn sie waren beide jung, schön, stark und gerad; darum wollte keiner dem andern weichen. Also fanden sie Rath und beschlossen, beide zugleich um eine Jungfrau zu freien; welchen die erwählte, der sollte Herr vom Lande sein und bleiben und der andere einen Abschied haben auf[203] Grebenstein, Immenhausen, Nordeck und Allendorf an der Lumbde; und derselbe sollte kein Eheweib nehmen, damit nach seinem Tode kein Streit um die Nachfolge entstehe. Da sie sich dessen also vereinigt hatten, kleideten sie sich gleich, erzeigten sich mit Pferden und Harnisch der Art, daß keiner einen Vortheil vor dem andern hatte, und ritten mit einander gen Meißen, denn Markgraf Friedrich der Freudige hatte eine Tochter, Elisabeth, die war jung und schön und gefiel den fürstlichen Brüdern, darum hatten sie diese ausersehen, über ihr Schicksal zu entscheiden. Als nun beide ihre Werbung vorgebracht hatten, erkor die Jungfrau den älteren Bruder, Landgrafen Heinrich. Da ward dieser Herr des Landes zu Hessen und Landgraf Ludwig mußte sich mit dem Abschiede begnügen.

Anonymus, ap. Senkenb. 340.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCIII203-CCIV204.
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