286. Otto der Schütz.

[204] Heinrich der Eiserne hatte von seiner Gemahlin zwei Söhne, Heinrich und Otto. Als diese zu reiferen Jahren gelangt waren, bestimmte er Ersteren zu seinem Nachfolger, den Andern, nach Zeitsitte, zum geistlichen Stande, und schickte ihn mit ansehnlichem Gefolge auf die hohe Schule gen Paris. Aber Otto hatte wenig Neigung für das thatenlose Faullenzerleben der Geistlichen seiner Zeit. Jung, schön von Angesicht, stark und lebenslustig wie er war, liebte er die Jagd und stand weit und breit in dem Rufe eines trefflichen Bogenschützen. Darum, als er mit seinen Begleitern zu Köln anlangte, entfernte er sich heimlich von ihnen, kaufte sich zwei reisige Pferde, einen guten Harnisch und eine Armbrust und begab sich an den clevischen Hof, wo er als Bogenschütz in die Dienste des Herzogs trat. Einige Jahre lebte er hier unerkannt unter dem schlichten Namen Otto Schütz und erwarb sich durch seine trefflichen Eigenschaften und sein ritterliches Wesen in hohem Grade die Gunst seines Gebieters und die Liebe der herzoglichen Tochter, der schönen und tugendhaften Elisabeth.

Da begab es sich einst, daß ein hessischer Edelmann, Heinrich von Homberg, auf einer Pilgerreise nach Aachen begriffen, am Hof zu Cleve einsprach, wo er in seiner Jugend als Page gedient hatte. Im Schloßhofe begegnete er Otto dem Schützen, erkannte ihn augenblicklich und erwies ihm fürstliche Ehre. Vergebens bemühte sich dieser, seinen Stand zu verleugnen und die ihm geschehene Ehre von sich abzuweisen, denn der Herzog hatte aus einem Fenster des Schlosses den Vorgang mit angesehen und erhielt durch den von Homberg Kunde von der fürstlichen Abkunft seines Bogenschützen. Da ließ er Otto vor sich kommen und hörte endlich aus seinem eigenen Munde die Bestätigung dessen, was Heinrich von Homberg ihm berichtet.[205]

Der Herzog gab ihm seine Tochter zur Gemahlin und Otto kehrte darauf in sein Vaterland zurück, wo er mit großem Jubel und von seinem ergrauten Vater, der inzwischen den älteren Sohn durch den Tod verloren hatte, mit offenen Armen empfangen wurde.

Anonymus ap. Senkenb. 352. – Spangenb. Adelssp. II, 121 u.A. – Vergl. auch Schminke, Unters. über die Begebenheiten Otto's des Schützen am Clev. Hof.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCIV204-CCVI206.
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