294. Wie Ziegenhain an Hessen gekommen.

[212] Als Landgraf Ludwig der Friedsame seine Reise nach dem heiligen Grabe antrat, begleitete ihn Graf Johann von Ziegenhain. Diesem wäre es aber schon ganz im Anfange beinahe schlimm ergangen, denn als sie in die Nähe von Venedig kamen, erkundschaftete ihn allda ein Kaufmann, den der Graf in seinem Lande hatte berauben lassen, welches zu der Zeit gar gemein gewesen und mit einem andern Namen »Grempeln auf der Straße« genannt wurde. Es thatens die Hohen und Niedern und in Hessen ging damals das Sprüchwort:


Rauben und Stehlen ist keine Schande,

Thun es die Besten doch im Lande.


Nun hatte der Kaufmann das Seine wohl öfter schon wieder fordern lassen, aber immer vergebens und so mußte er in Geduld Zeit und Gelegenheit abwarten, wo ihm dennoch Ersatz für seinen Schaden werden möchte. Wie er nun den Grafen zu Venedig entdeckt hatte, gedachte er ihn festnehmen zu lassen und dann wäre er schändlich um sein Leben gekommen. Da erhielt noch zur rechten Zeit der Landgraf Kunde von dem schlimmen Handel, erlegte eine große Summe für den Grafen, stellte dadurch den Kaufmann zufrieden und rettete Jenen aus der Gefahr.

Nachmals hat der Graf, da er der letzte seines Stammes und kinderlos gewesen, dem Landgrafen für die dargestreckten Gelder, wozu ihm dieser noch eine ziemliche Summe gegeben, seine Grafschaften Ziegenhain und Nidda übertragen mit dem Beding, daß[212] er und seine Gemahlin ihr Lebtag die Grafschaften ruhig besitzen und diese hernach an Hessen fallen sollten, was denn auch geschehen ist.

Spangenb., Adelssp. I, 303. – Winkelmann, VI, 383.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CCXII212-CCXIII213.
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