63. Die Simrichshöhle.

[40] In einer Höhle am Heldrasteine bei Wanfried wohnte ein Räuber, Simrich mit Namen, der in der ganzen Umgegend[40] sehr gefürchtet war. Eine schöne Jungfrau führte ihm das Hauswesen, bereitete ihm Speise und Lager, hütete die Höhle und die Schätze, die darin aufgehäuft lagen, wenn er auf Raub auszog, und weinte dann viel, denn sie sehnte sich, Vater und Mutter einmal wiederzusehen, denen sie unbarmherzig entrissen worden war. Eines Tages gewannen ihre Thränen und Bitten soviel über den rauhen Mann, daß er ihr gestattete, die Lieben daheim auf einige Tage zu besuchen. Doch mußte sie ihm zuvor mit einem heiligen Eide geloben, keinem Menschen zu sagen, wo die Höhle sei und welche Pfade dahin führen, auch daß sie an einem bestimmten Tage wieder zurückkehren wolle.

In dem elterlichen Hause war große Freude, als nun die langvermißte, todtgeglaubte, geliebte Tochter heimkehrte, und des Herzens und Fragens war kein Ende. Aber auf alle Fragen hatte die Jungfrau nur Eine Antwort: sie weinte und gedachte schweigend des Schwures, den sie ihrem wilden Gebieter hatte leisten müssen. So verfloß die Zeit. Der Tag kam heran, da sie wieder von ihren Lieben scheiden mußte und mit schwerem Herzen trat sie den Rückweg an. Sie hatte zuvor ihre Schürze mit Erbsen gefüllt; von ferne folgten die Brüder ihr nach, welche sich das Wort gegeben hatten, ihren Aufenthaltsort zu erspähen und sie aus der Gewalt zu befreien, die sie dort festhielt. Als der Pfad verworren und unwegsam wurde, fing sie an, Erbsen zu streuen bis vor die Höhle, wo ihr Vorrath gerade zu Ende ging. Ihre Brüder fanden die Erbsenspur, gelangten auf ihr bis zur Höhle, überwanden den Räuber im Kampfe und führten die Schwester glücklich ins Vaterhaus zurück.

Die Simrichshöhle ist noch heute zu sehen.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. XL40-XLI41.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen