94. Die wilden Leute von Waickardshain.

[60] Aehnliche Sagen wie die ebenerzählten trifft man auch westlich von den Kinzigbergen in dem darmstädtischen Oberhessen, namentlich bei Grünberg.

Nahe bei Waickardshain, am s.g. Höllersborn, etwa eine Stunde von Grünberg, liegt eine waldige Höhe, der »Wildfrauenberg« genannt. Hier wohnte in uralter Zeit eine »wilde Frau« mit ihrem »wilden Manne« in einer Waldhütte. Das Weib war gewohnt nach Waickardshain zu gehen und sich dort einen Groppen (= olla, Topf) zum Kochen zu leihen; da dies aber zu oft geschah, so fiel sie den Nachbarn lästig und sie thaten ihr den Gefallen nicht mehr gern. Darum kaufte sich die »wilde Frau« einen hölzernen Eimer, hing ihn, mit Wasser und Fleisch gefüllt, über[60] das Feuer, hieß ihren Mann Achtung haben und brachte den Leuten in Waickardshain grob und scheltend den entliehenen Groppen wieder. Als sie darauf nach Hause zurückkehrte, war inzwischen der Eimer von den Flammen zerfressen und herabgestürzt und, gleich wie das Fleisch, fast ganz zu Asche geworden. Da fiel sie zornig über ihren Mann her, jagte ihn zur Hütte hinaus und schleuderte ihm einen riesigen Felsblock nach. Der Stein liegt noch an Ort und Stelle und man sieht an ihm ganz deutlich die tiefen Eindrücke von den Fingern des Riesenweibes.

Der Mann zog sich von Stund an, voll Verdruß, von seinem Weibe zurück, wohnte fortan in der »wilden Grube« bei Grünberg und ließ sich nur noch selten im »Wildfrauenberge« sehen.

Glaser, Beitr. z. Gesch. v. Grünberg S. 2.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LX60-LXI61.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen