95. Frau Schuckel.

[61] Ein anderes, den wilden Leuten vielleicht nahverwandtes Wesen, die Frau Schuckel, bewohnt mit ihnen ein und dieselbe Gegend. Die Frau Schuckel ist als eine ebenso mächtige als gutmüthige Zauberin bekannt und wird vom Volke geliebt und in Ehren gehalten. Auch sie hat, gleich den wilden Leuten im Bernhardswald, nur so lange ewiges Leben, als sie ein bestimmtes Gebiet nicht verläßt, nämlich den mittleren Abhang der zwischen Schlüchtern und Steinau sich ausdehnenden Spessart-Hügellandschaft, oder mit andern Worten die Gegend zwischen dem Ahlersbacher Weinberge, dem Weiperzer Gipfel und der Stadt Steinau. Mehrere wunderbare Höhlen in diesen Bergen dienen ihr den Winter über zum Aufenthalt; es sollen sich Zauberbücher darin befinden, auch reiche Schatzkammern, gefüllt mit Gold und edlen Steinen. Unzugänglich sind diese Höhlen für Jedermann, wer aber das Schloß Nama findet und den Schlüssel Tata, und mit diesem Schlüssel[61] das Schloß öffnet, zu dem kommen dienstbare Geister, die Kinder der Frau Schuckel, und führen ihn zu ihrer Mutter. Im Frühling und zwar am letzten März, verläßt Frau Schuckel die unterirdische Welt und schwebt als holde Jugenderscheinung über blumige Wiesen und Wälder bis höher hinauf zu den Sternen, bis Advent sie wieder nach unten ruft. Das Cypripedium nennen dort die Leute ihr zu Ehren »Frauschuckelblume«. Nur im Mai ist es gestattet, diese Blume, die ihr als Symbol der Kindheit und Unschuld gewidmet ist, zu pflücken; wer sie früher oder später bricht, den haßt Frau Schuckel und sie zieht ihre Hand von ihm ab, wenn böswillige Berggeister ihn packen.

Mündlich; mitg. v.H. Dr. Bernstein.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXI61-LXII62.
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