98. Die drei Jungfrauen vom Schloßrain.

[63] Auf dem Schloßrain bei Friedigerode, unfern Oberaula, stand vor langer Zeit ein Schloß, von dem jetzt keine Spur mehr zu sehen ist. Es soll in den Berg versunken sein, so tief, daß nur der Schornstein noch aus dem Boden ragte. Es leben noch Leute in Friedigerode, welche denselben in ihrer Kindheit gesehen und Steine hineingeworfen haben. Auch dieser Schornstein versank vor etwa fünfzig Jahren. Seit das Schloß versunken war, zeigten sich öfters drei schöne Jungfrauen; sie kamen nach dem Dorfe, wenn Musik dort war und tanzten mit den Burschen. Einmal aber verspäteten sie sich bei dem Tanze und zeigten große Angst darüber. Um die Ursache ihres Schreckens befragt, antworteten sie schluchzend und klagend: sie stammten aus dem versunkenen Schlosse und hätten sich über die Zeit aufgehalten, wofür sie hart büßen müßten. Bis zum Schloßrain gaben die Burschen des Dorfes ihnen das Geleite, da sagten sie diesen, daß sie in den Brunnen steigen würden; wenn das Wasser nachher blutig sei, dann hätten sie für ihr zu langes Verweilen ihr Leben lassen müssen. Die Burschen sahen sie darauf vor ihren Augen in dem Brunnen versinken; der beherzteste unter ihnen ging hinzu, und siehe, es schwammen drei Blutstropfen auf dem Wasser. Seitdem sind die Jungfrauen nie wieder gesehen worden.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXIII63.
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