99. Der See bei Oberellenbach.

[63] Es findet sich wohl nicht leicht ein Dorf in unserm Heimathlande, das nicht etwas Merkwürdiges aufzuweisen hätte. So zeigt man unterhalb Oberellenbach bei Rotenburg auf einer nicht unbedeutenden Anhöhe, dem Wachholderberge, zwei Seen. Der unterste, nach dem Dorfe zu gelegene, ist 1689 mit großem Geräusch zum Erstaunen aller Dorfbewohner ganz eingesunken und stellt bis heute noch eine ansehnliche Vertiefung ohne Wasser dar. Der höher aufwärts sich befindende Teich ist drei Acker groß und achtzehn Klaftern tief, wie sich bei einer vom Landgrafen Karl vorgenommenen Messung ergeben haben soll. Das Merkwürdige dabei ist, daß das ziemlich klare Wasser niemals merklich ab- und zunimmt. Von diesem See erzählt man sich in Oberellenbach folgende Sage:

Alljährlich zur Zeit der Kirmeß fanden sich im Dorfe drei Seejungfrauen ein, sobald sie den Schall der Musik und den Jubel der Tänzer in der Tiefe ihres Sees vernommen hatten. Sie waren schneeweiß gekleidet und trugen sogar weiße Handschuh. Sobald sie angekommen waren, suchten sie sich drei Burschen aus, tanzten eine Stunde lang, waren fröhlich und guter Dinge und trugen viel zum Vergnügen der andern Anwesenden mit bei. Jeden Abend aber zu derselben Minute verschwanden sie von dem Plane, um zur rechten Zeit in ihrem See wieder einzutreffen. Einmal tanzte Eine von ihnen mit einem hübschen Burschen und fand so großes Wohlgefallen an ihm, daß sie die Zeit vergaß und sich am Ende zu ihrem Schrecken von den beiden Schwestern allein zurückgelassen sah. Da traten die Burschen und Mädchen des Dorfes zusammen und begleiteten die Jungfrau mit Musik bis zum See. Vor Aller Augen sprang sie in die kalte Flut, deren Spiegel sich mit lautem Wehklagen öffnete, sie zu empfangen, und alsbald quoll ein Strom von Blut aus der Tiefe und färbte die[64] ganze Oberfläche roth. Seitdem ist niemals wieder eine der Seejungfrauen gesehen worden.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXIII63-LXV65.
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