An denselben

[847] als er sich leidenschaftlich mit Verfertigung von Sonnenuhren beschäftigte


Mai 1840


Hör Er nur einmal, Herr Vetter,

Was mir diese Nacht geträumet!

Sonntag war es, nach Mittage,

Und ich sah vom Fenster Seines

Alten gelben Gartenhäuschens,

Wie die Bürgersleute ruhig

Vor der Stadt spazierengingen.

Und ich wandte mich und sah Ihn,[847]

Der im Anfang nicht zugegen,

Ernsthaft vor dem Spiegel stehen,

In der Stellung eines Mannes,

Der sich zu balbieren trachtet.

Doch indem ich näher trete

Muß ich voll Erstaunen sehen,

Wie Er sich mit schwarzer Farbe

Auf Sein rundes Vollmondantlitz

Einen saubern Halbkreis malte;

Von der linken Schläfe abwärts,

Zwischen Mund und Kinn hindurch, und

So hinauf die rechte Backe.

Jetzo mit geübtem Pinsel

Zeichnet' Er entlang dem Zirkel

Schöngeformte römsche Ziffern,

Kunstgerecht, von eins bis zwölfe.

Und ich dachte: ach, mein lieber

Vetter ist ein Narr geworden! –

Denn Er sah mich an mit Augen,

Die mich nicht zu kennen schienen.

Überdem stellt' Er sich förmlich

An das Fenster in die Sonne,

Und der Schatten Seiner Nase

Sollte nun die Stunde weisen.

Ach, die Leute auf der Straße

Wollten fast sich Kröpfe lachen!


Was nun dieser Traum bedeute?

Ich will Ihn just nicht erschrecken:

Aber laß Er Sein verdammtes

Sonnenuhrenmachen bleiben!


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 847-848.
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