Besuch in der Kartause

[816] Epistel an Paul Heyse


Als Junggesell, du weißt ja, lag ich lang einmal

In jenem luftigen Dörflein an der Kindelsteig

Gesundheitshalber müßig auf der Bärenhaut.

Der dicke Förster, stets auf mein Pläsier bedacht,

Wies mir die Gegend kreuz und quer und führte mich

Bei den Kartäusern gleich die ersten Tage ein.

Nun hätt ich dir von Seiner Dignität zunächst,

Dem Prior, manches zu erzählen: wie wir uns

In Scherz und Ernst, trotz meines schwäbischen Ketzertums,

Gar bald verstanden; von dem kleinen Gartenhaus,

Wo ein bescheidnes Bücherbrett die Lieblinge

Des würdigen Herrn, die edlen alten Schwarten trug,

Aus denen uns bei einem Glase Wein, wie oft!

Pränestes Haine, Tiburs Wasser zugerauscht.

Hievon jedoch ein andermal. Er schläft nun auch

In seiner Ecke dort im Chor. Die Mönche sind,

Ein kleiner Rest der Brüderschaft, in die Welt zerstreut;

Im Kreuzgang lärmt der Küfer, aus der Kirche dampft

Das Malz, den Garten aber deckt ein Hopfenwald,

Kaum daß das Häuschen in der Mitte frei noch blieb,

Von dessen Dach, verwittert und entfärbt, der Storch

Auf einem Beine traurig in die Ranken schaut.


So, als ich jüngst, nach vierzehn Jahren, wiederkam,

Fand ich die ganze Herrlichkeit dahin. Sei's drum![816]

Ein jedes Ding währt seine Zeit. Der alte Herr

Sah alles lang so kommen, und ganz andres noch,

Darüber er sich eben nicht zu Tod gegrämt.


Bei dünnem Weißbier und versalznem Pökelfleisch

Saß ich im Gasthaus, der gewesnen Prälatur,

Im gleichen Sälchen, wo ich jenes erste Mal

Mit andern Fremden mich am ausgesuchten Tisch

Des Priors freute klösterlicher Gastfreiheit.

Ein großer Aal ward aufgetragen, Laberdan,

Und Artischoken aus dem Treibhaus »fleischiger«,

So schwur, die Lippen häufig wischend, ein Kaplan,

»Sieht sie Fürst Taxis selber auf der Tafel nicht!«

Des höchsten Preises würdig aber deuchte mir

Ein gelber, weihrauchblumiger Vierunddreißiger,

Den sich das Kloster auf der sonnigsten Halde zog.

Nach dem Kaffee schloß unser wohlgelaunter Wirt

Sein Raritätenkästchen auf, Bildschnitzerein

Enthaltend, alte Münzen, Gemmen und so fort,

Geweihtes und Profanes ohne Unterschied;

Ein heiliger Sebastian in Elfenbein,

Desgleichen Sankt Laurentius mit seinem Rost,

Verschmähten nicht als Nachbarin Andromeda,

Nackt an den Fels geschmiedet, trefflich schön in Buchs.

Nächst alledem zog eine altertümliche

Stutzuhr, die oben auf dem Schranke ging, mich an;

Das Zifferblatt von grauem Zinn, vor welchem sich

Das Pendelchen nur in allzu peinlicher Eile schwang,

Und bei den Ziffern, groß genug, in schwarzer Schrift

Las man das Wort: Una ex illis ultima:

»Derselben eine ist die letzt« – verdeutschte flugs

Der Pater Schaffner, der bei Tisch mich unterhielt

Und gern von seinem Schulsack einen Zipfel wies;

Ein Mann wie Stahl und Eisen; die Gelehrsamkeit

Schien ihn nicht schwer zu drücken und der Küraß stand

Ihm ohne Zweifel besser als die Kutte an.


Dem dacht ich nun so nach für mich, da streift mein Aug

Von ungefähr die Wand entlang und stutzt mit eins:

Denn dort, was seh ich? wäre das die alte Uhr?

Wahrhaftig ja, sie war es! – und vergnügt wie sonst,

Laufst nicht, so gilt's nicht, schwang ihr Scheibchen sich auf und ab.[817]

Betrachtend stand ich eine Weile still vor ihr

Und seufzte wohl dazwischen leichthin einmal auf.

Darüber plötzlich wandte sich ein stummer Gast,

Der einzige, der außer mir im Zimmer war,

Ein älterer Herr, mit freundlichem Gesicht zu mir:

»Wir sollten uns fast kennen, mein ich – hätten wir

Nicht schon vorlängst in diesen Wänden uns gesehn?«

Und alsbald auch erkannt ich ihn: der Doktor war's

Vom Nachbarstädtchen und weiland der Klosterarzt,

Ein Erzschelm damals, wie ich mich wohl entsann,

Vor dessen derben Neckerein die Mönche sich

Mehr als vor seinem schlimmsten Tranke fürchteten.

Nun hatt ich hundert Fragen an den Mann, und kam

Beiher auch auf das Ührchen: »Ei, ja wohl, das ist«,

Erwidert' er, »vom seligen Herrn ein Erbstück noch,

Im Testament dem Pater Schaffner zugeteilt,

Der es zuletzt dem Brauer, seinem Wirt, vermacht.«

– »So starb der Pater hier am Ort?« – »Es litt ihn nicht

Auswärts; ein Jahr, da stellte sich unser Enaksohn,

Unkenntlich fast in Rock und Stiefeln, wieder ein:

›Hier bleib ich‹, rief er, ›bis man mich mit Prügeln jagt!‹

Für Geld und gute Worte gab man ihm denn auch

Ein Zimmer auf der Sommerseite, Hausmannskost

Und einen Streifen Gartenland. An Beschäftigung

Fehlt' es ihm nicht; er brannte seinen Kartäusergeist

Wie ehedem, die vielbeliebte Panazee,

Die sonst dem Kloster manches Tausend eingebracht.

Am Abend, wo es unten schwarz mit Bauern sitzt,

Behagt' er sich beim Deckelglas, die Dose und

Das blaue Sacktuch neben sich, im Dunst und Schwul

Der Zechgesellschaft, plauderte, las die Zeitung vor,

Sprach Politik und Landwirtschaft – mit einem Wort,

Es war ihm wohl, wie in den schönsten Tagen kaum.

Man sagt, er sei bisweilen mit verwegenen

Heiratsgedanken umgegangen – es war damals

So ein lachendes Pumpelchen hier, für den Stalldienst, wie mir deucht –

Doch das sind Possen. Eines Morgens rief man mich

In Eile zum Herrn Pater: er sei schwer erkrankt.

Ein Schläglein hatte höflich bei ihm angeklopft

Und ihn in größern Schrecken als Gefahr gesetzt.

Auch fand ich ihn am fünften oder sechsten Tag[818]

Schon wieder auf den Strümpfen und getrosten Muts.

Doch fiel mir auf, die kleine Stutzuhr, welche sonst

Dem Bette gegenüberstand und allezeit

Sehr viel bei ihm gegolten, nirgend mehr zu sehn.

Verlegen, als ich darnach frage, fackelt' er:

Sie sei kaputtgegangen, leider, so und so.

Der Fuchs! dacht ich, in seinem Kasten hat er sie

Zuunterst, völlig wohlbehalten, eingesperrt,

Wenn er ihr nicht den Garaus etwa selbst gemacht.

Das unliebsame Sprüchelchen! Mein Pater fand,

Die alte Hexe fange nachgerade an

Zu sticheln, und das war verdrießlich.« – »Exzellent!

Doch setzten Sie den armen Narren hoffentlich

Nicht noch auf Kohlen durch ein grausames Verhör?«

– »Je nun, ein wenig stak er allerdings am Spieß,

Was er mir auch im Leben, glaub ich, nicht vergab.«

– »So hielt er sich noch eine Zeit?« – »Gesund und rot

Wie eine Rose sah man Seine Reverenz

Vier Jahre noch und drüber, da denn endlich doch

Das leidige Stündlein ganz unangemeldet kam.

Wenn Sie im Tal die Straße gehn dem Flecken zu,

Liegt rechts ein kleiner Kirchhof, wo der Edle ruht.

Ein weißer Stein, mit seinem Klosternamen nur,

Spricht Sie bescheiden um ein Vaterunser an.

Das Ührchen aber – um zum Schlusse kurz zu sein –

War rein verschwunden. Wie das kam, begriff kein Mensch.

Doch frug ihm weiter niemand nach, und längst war es

Vergessen, als von ungefähr die Wirtin einst

In einer abgelegnen Kammer hinterm Schlot

Eine alte Schachtel, wohlverschnürt und zehenfach

Versiegelt, fand, aus der man den gefährlichen

Zeitweisel an das Tageslicht zog mit Eklat.

Die Zuschrift aber lautete: ›Meinem werten Freund

Bräumeister Ignaz Raußenberger auf Kartaus‹.«


Also erzählte mir der Schalk mit innigem

Vergnügen, und wer hätte nicht mit ihm gelacht?

Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 816-819.
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