Hermippus

[831] An Karl Wolff, Rektor des Katharinenstifts


Stuttgart 1860


Seltsames wird von Hermippus, dem römischen Weisen, dem Pfleger

Weiblicher Jugend, erzählt, Glaubliches doch, wie mir deucht.

Hundertundfünfzehn Jahre, so liest man, vom stärkenden Anhauch

Kindlicher Lippen genährt, lebte der treffliche Greis.

Dort in geschlossener Halle, die er zur Schule den Mädchen

Selber gegründet, auch wohl öfter im Gärtchen am Haus

Sah man ihn Tag für Tag, vom Morgen zum Abende tätig,

Bei dem bescheidenen Brot seiner Minerva vergnügt.

Rundum zu Füßen ihm saß, in pergamentenen Rollen

Lesend ein Teil, ein Teil still mit dem Griffel bemüht.

Aber der kleineren eins hielt er in holder Umarmung

Allzeit selbst auf dem Schloß (immer das ärmste zuerst).

Goldene Sprüche der Alten und liebliche Rhythmen der Dichter,

Die es gelernt, hört' er, leis ihm der Reihe nach ab.

Und vom Munde des Mädchens den Hauch, wie Frühlingsatem

Herzerfrischend, empfing er in die welkende Brust.[831]

Also fristet' Asklepios ihm die gesegneten Tage.

Aber der Parze zuletzt weicht auch der Himmlischen Rat.

– – Als er nun tot im Portikus saß in dem steinernen Sessel,

Noch vom Mantel, den er gestern getragen, umhüllt,

Kamen aus jedem Quartiere der Stadt unmündige Kinder,

Jungfraun, Mütter, in Eil, edle Matronen, herbei,

Ihren Hermippus noch einmal zu sehn, den Geweihten der Götter,

Kamen und standen von fern, sonder Entsetzen, um ihn,

Ehrend so heiligen Schlaf mit Schweigen. Und einige kränzten

Mit Hyazinthen sein Haupt, Veilchen auch deckten den Schoß.

Lieblicher war nicht Homerus geschmückt von den Fingern der Musen,

Milderes Have war keinem hinuntergefolgt.


Aber wozu dir dies, mein Lykos? – Bester, versteh mich:

Lang ist die Kunst, und lang messe dein Leben der Gott!

Zwar noch ist es nicht eben an dem gar, daß du der Künste

Unseres Römers bedarfst, aber sie kommt dir, die Zeit,

Laß mich's hoffen! – gewiß. Dann, wenn die Locke dir schneeweiß

Hängt und der Bart, wer ist besser geborgen als du?

Doch ich seh es im Geist, du wirst an Würden und Ehren

Reich, vor den Neunzigen schon heiterer Ruhe dich freun.

Still im eigenen Haus hast du, im eigenen Gärtlein

Sitzend, ein blühendes, lernlustiges Häufchen zur Hand.

Zwar längst nimmer den Enkel, doch Söhne und Töchter des Enkels

Auf den Knien, trinkst du Fülle des Lebens in dich.1

Fußnoten

1 Anmerkung: Thomas Reinesius, ein Gelehrter des 17. Jahrhunderts, gibt in seiner Sammlung römischer Altertümer von einem interessanten Monumente Nachricht, dessen Echtheit er übrigens nicht verbürgen will. Dasselbe hat folgende Inschrift:


ÆSCULAPIO · ET · SANITATI

L · CLODIUS · HERMIPPUS

QUI · VIXIT · ANNOS · CXV · DIES · V

PUELLARUM · ANHELITU

QUOD · ETIAM · POST · MORTEM EIUS

NON · PARUM · MIRANTUR · PHYSICI

IAM · POSTERI · SIC · VITAM · DUCITE.


Vgl. hiezu: »Der wiederauflebende Hermippus oder curiose physicalisch-medicinische Abhandlung etc., von J.H. Cohausen, 1752.«


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 831-832.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1867)
Gedichte
Der Nacht ins Ohr. Gedichte von Eduard Mörike.Vertonungen von Hugo Wolf. Ein Lesebuch von Dietrich Fischer-Dieskau
Sämtliche Gedichte in einem Band
Die schönsten Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Haller, Albrecht von

Versuch Schweizerischer Gedichte

Versuch Schweizerischer Gedichte

»Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke; Doch er wendet Elend selbst zum Glücke. Fällt der Himmel, er kann Weise decken, Aber nicht schrecken.« Aus »Die Tugend« von Albrecht von Haller

130 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon