Meiner Schwester

[798] Nach dem Tode der Mutter, mit einem Blatt von der Birke zwischen dem Pfarrhaus und dem Kirchhof zu Cleversulzbach


Sommer 1841


»Blättchen, das im losen Spiel

Winde durch die Lüfte tragen,

Blättchen, kannst du mir nicht sagen,

Wo ist deiner Wandrung Ziel?«
[798]

Ach ich weiß ein frommes Kind,

Dem möcht ich mich gern verbinden,

Und kann doch den Weg nicht finden,

So verstürmte mich der Wind.


Als ich aus der Knospe mich

Vor den Veilchen, früh, gerungen,

Kam das Liebchen oft gesungen

Durch den Garten morgendlich.


Aber da sich, glatt und schön,

Tät mein grünes Herzlein dehnen,

Sah ich sie in bittern Tränen

Unter unsern Zweigen stehn.


Und dort drüben überm Hag,

Steht das Röslein, steht die Weide,

Dahin wallte sie in Leide

Mir vorüber jeden Tag.


Freut' auch mich nichts weiter mehr,

Nicht die süße Maiensonne,

Bienenton und Schaukelwonne,

Keine kühle Mondnacht mehr.


Also welkt ich vor der Zeit,

Bin, bevor der Herbst gekommen,

Aus der Mutter Hut genommen

Und von der Geliebten weit.


Dürft ich zu ihr, ach wieviel

Sagt ich ihr von Lust und Schmerzen!

Und an dem getreusten Herzen

Fänd ich meiner Wandrung Ziel.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 798-799.
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