Zum zehnten Dezember

[799] »Sie ist mündig!« Sagt mir, Leute,

Wie versteh ich dieses Wort?

Ach ein Kind war sie bis heute,

Bleibt sie das nicht immerfort?
[799]

Hingen denn vor einem Jahre

Um dies Morgenangesicht

Kindlicher die blonden Haare

Und in goldenerem Licht?


Zögen heut zu diesem Herzen,

Fromm geartet, hold und rein,

Andre Freuden, andre Schmerzen,

Ganz ein neues Wesen ein?


Und zu glänzen allerorten,

Würde sie der großen Welt,

An Gebärde, Sitt und Worten

Ihren Schwestern gleichgestellt?


Nein! ein Engel dieser Erden

Ohne Wandel bleibet sie.

Eine Fürstin kann sie werden,

Eine Dame wird sie nie!

Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 799-800.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1867)
Gedichte
Der Nacht ins Ohr. Gedichte von Eduard Mörike.Vertonungen von Hugo Wolf. Ein Lesebuch von Dietrich Fischer-Dieskau
Sämtliche Gedichte in einem Band
Die schönsten Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)