30. Die Schildkröte und die Ratte

[76] Eine Fabel.


Vor dem Sturm eilt sich zu schützen

Manches Thier dem Walde zu;

Nur die Schildkröt' bleibet liegen

Auf dem off'nen Feld in Ruh.


Dies erblickt die Ratte; zeigen

Will sie auch den gleichen Mut,

Daß auch sie der Sturm nicht schrecke

Noch des Regens kühle Flut.


Tückisch grollend lacht der Eitlen

Jene bei sich, denn sie sah[76]

Ueber sich, bald Unheil bringend,

Weiße Hagelwolken nah.


Und nicht lang', so rauscht es; Schlossen

Schlagen nieder, scharf und dick.

In ihr Schild zieht jetzt die Kröte

Sicher Kopf und Bein' zurück.


Doch die arme Ratte findet

Keinen Schirm, der sie hier deckt;

Und in wen'gen Augenblicken

Liegt sie todt dahingestreckt.


Miß nicht, Armer, dich mit Reichen,

In der Not deckt sie ihr Glück.

Nackend sinkst du; jene freuet

Oefters noch dein Mißgeschick.

Quelle:
Friedrich Müller (Maler Müller): Gedichte. Jena 1873, S. 76-77.
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