XXV

[217] Die Indianer strichen den lieben Tag lang unnütz am Flusse herum oder lagen im tropischen Halbschlafe. Zana pflegte desgleichen, wenn sie nicht die Wirtschaft besorgte. Nun, und am dritten Tage traf Slim bei uns ein. Er war voll Leben, sah ungeheuer vergnügt aus und schlug gleich einen energischen Ton an. Die Indianer wurden an das halbfertig im Stich gelassene Boot geschickt. »Das ist geradezu unsittlich, ihr faulenzt ja nach Noten!« sagte Slim. »Ja, ich habe nun einen Plan. Wenn wir von hier flußab gehen, müssen wir an den Amazonas kommen, das ist klar. Und laßt uns nur einmal dort sein: dann bekommt die Sache noch immer ein gemütliches Gesicht.«

Am Abend saßen wir innerhalb des Feuerkreises und knabberten an den Gräten eines Fisches, der eine Beute von Chechos Geschicklichkeit geworden war. Slim aß mit verzücktem Gesicht. Er blinzelte;[217] um seine Augenwinkel war ein Kranz von lustigen Falten. Er hatte etwas Lallendes in den Zügen, den Ausdruck eines sonderbaren Zustandes, etwas Neues und Unerklärliches. Ich dachte an die komische Situation im Walde und lächelte in mich hinein. Wie seltsam das Leben war! Da saßen wir drei mit langen Bärten, die Gesichter dicht beieinander im Feuerschein, wackelten mit den Köpfen und – hahaha, es war zum herausplatzen. Ich wollte ein Wort darüber fallen lassen. Da erstarrte ich plötzlich bis ins Mark. Ein Gedanke war in mir aufgetaucht. Ich betrachtete Slim. War es möglich, war er nun irrsinnig oder nicht?

Mein entsetzter Blick hatte eine verwirrende Folge. Slim unterbrach sich im Kauen, sah mich mit nackter Verwunderung an und begann vergnügt zu nicken. Sein Blick besaß einen so klaren naiven Glanz, daß ich ihn nicht vertrug. Ich sah weg, sah zu van den Dusen hinüber. Dieser aß mit trägen Bewegungen, seine Augen schielten kreuzweis übers Nasenbein auf das Skelett, das er in der Hand hielt, und aus dem er mit seinen Fingern das Fleisch herausbohrte. Slims Augen wanderten von mir zu ihm. Als der Holländer bemerkte, daß wir uns mit ihm beschäftigten, hob er seine Blicke zu uns auf, aber langsam, in Etappen, als ob sie eine Wendeltreppe emporgingen. Dabei fuhr er mit der gleichen trägen Gelassenheit fort zu kauen und das Fleisch zu seinem Munde zu führen. Er sah tierisch aus und aus seinem Kopfe blickte der Schädel einer Katze oder einer Schlange. In seinen Augen war gleichsam eine fremdartige Tageszeit, nicht die milde menschliche Nacht und vertrauter Lagerschein. Im gleichen Augenblicke, da ich dies erfaßte, fühlte ich ein warmes zwanghaftes Gefühl auf meinem Gesichte. Es war, als ob mir eine fremde Maske aufgedrückt würde, mein Gesicht nahm krampfhafte Formen an, mein Hals wurde dick und meine Augen schoben sich wie auf Stielen vor. Sie wurden mir von einem Magneten fortgezogen und ich konnte ihnen nicht folgen. Während ich zu van den Dusen hinflog und unsere Augen sich ineinanderschraubten, erwartete ich ängstlich die Kollision unserer Stirnen. Aber wir kamen einander nicht näher. Der Holländer lenkte seinen Blick langsam auf Slim ab. Schließlich wandte er sich fort, er zeigte uns den Rücken und atmete mit starken Hebungen des Brustkorbs. In der Hand hielt er eine Portion Fisch, die ekelhaft zerpflückt und zerquetscht war. Sein Gesicht gewann einen Zug unendlicher Qual.

Wir sind irrsinnig, überlegte ich. Ein Wohlgefühl überkam mich. Ich befand mich auf der Höhe meiner Pflicht. Ich grinste, ich fletschte[218] die Zähne, ich stieß schnalzende Laute aus. Wir waren irrsinnig! Wir waren sämtlicher Verantwortlichkeiten los und ledig! Wenn uns jetzt jemand sehen könnte, wenn doch ein einziger dagewesen wäre, uns zu bewundern! Die Indianer verstanden es nicht. Wir waren die Helden unseres Berufes, unsere Tropenfahrt hatte uns irrsinnig gemacht, der Djungle hatte uns durch Gemütserschütterungen aus dem Gleichgewichte gebracht! Wir armen Seelen, wie hoch standen wir über dem gesunden Durchschnittsmaß! Wir waren den entgegengesetztesten Affekten zugänglich ...

Ja, wir Irre sind ein schlaues Volk. Wir sind doppelt so schlau als die Klügsten unter den Menschen. Wir wissen im Grunde unserer Seele sehr wohl, daß wir nicht eigentlich irrsinnig sind, sondern daß wir das Ganze nur aus Vergnügen betreiben. Wer dumm genug ist, nicht zu wissen, welcher Spaß Irrsinn ist! Immer noch einen Schritt sind wir vor dem Dutzendverstande voraus. Wir Narren halten alle zum Narren. Wir sind die Geschöpfe der Sprache, die Windhunde des Begriffes; wir sehen die Welt mit Worten und durchdringen die Wahrheit im System der Laute. Wir können uns zurücknehmen; aber wir nehmen uns niemals zurück. Ihr könnt uns keinen Ersatz bieten für den Rausch unserer spitzfindigen Logik und die Schadenfreude unserer krassen Schlüsse. Die Komödie, mit der wir unsere Lüste fristen, geht nicht in euer Hirn. Darum sind wir Narren, wir perfekte und menschlichere Menschen, am Ende nur die Klügeren. Wir denken das, wozu wir Lust haben. Wir lassen uns tief in unsere Seligkeit fallen. Ein recht fideler Trübsinn, wie der van den Dusens, ist ein Stück wohlgefälliger Übung inmitten der Einsamkeit zu dreien. Recht so, laßt uns irrsinnig sein, laßt uns die Langeweile und die Furcht vorm Dasein durch phantasievolle Grimassen vertreiben! Stürzen wir uns kopfüber in alle verkehrten Methoden, hängen wir das Leben und seinen Verstand bei den Beinen auf! Ah, wie ich sie alle durchschaute, sie und mich, wie ich mich mit ihnen auf derselben Staffel bewegte und mit ihren Sensationen im Schritt blieb! Irrsinnig wollten sie nun zur Abwechselung einmal sein und waren es auch, und irrsinnig wollte auch ich sein, und, Gott verdamme mich, die Geschichte entwickelte sich! War es nicht an und für sich schon eine verrückte Idee, Irrsinn zu simulieren! Es geht, es geht! Endlich sind wir vom Verstande erlöst! Wir lösen uns in das wildeste Denken auf. Die Worte tanzen wie Götter, jeder Klang hat einen meilenweiten Geruch nach Himmel oder Hölle, der Wortegeist ist in uns gefahren, im Wortschwall sprudeln wir die Welt noch einmal hervor. Und[219] dennoch sind wir nicht irrsinnig. Wollt ihr es bewiesen sehen? Wir können vernünftig sein. Doch scheint es uns nicht wünschenswert. Wir sind seliger im Irrsinn. Adieu, Räson, öffne dich, flackernde Nacht der Intellekte! Auf Erden geschieht alles nur aus Angst vor der Langeweile! Die Erde, nein, ist das Fiebern eines Gottes! Er ist durstig, er will saufen; er will leben und alles ist öde; da schneidet er seine Kehle auf, einen zweiten großen, einen größeren Mund, und er hört sein Blut quellen und glaubt eine Oase damit zu tränken, er hört es in der großen Stille, die um ihn ist, klirren wie Metall, seine Rhythmen schlagen gegeneinander und er tanzt, tanzt Worte, daß sie wie rote Kugeln von ihm fliegen, und fängt mit den Lippen durstig auf, was dunkel aus seinem eigenen Munde an der Kehle brach. Er nährt, schluckt und verdaut sich selbst, der Gott der Erde, welcher ist gleich dem Gotte des Irrsinns und der Worte! Sein Fieber ist Erde, und darum werde ich ein Buch schreiben und es »Fieber« heißen, ein Buch für alle jene, die nicht dabei sind, wenn ich irrsinnig bin und in Lauten rase!

In meinem pythischen Wahnsinn ist Tiefe. Die Nacht ist still, die Lagerfeuer kreisen. Auf Slims bärtigem Gesicht liegt das Lächeln süß und frisch wie bei einem Naturkinde. Und er wandte sich an mich: »Dieser melancholische Dutchman kann mich nicht ausstehen. Ich mache ihn krank, er kann mein Gesicht nicht verknusen. Eines Tages wird er mir im Schlafe den Kopf abschneiden. Ich kenne ihn; er ist harmlos, das ist stets gefährlich. Er kann wütend werden, dieser Trübselige; und, sehen Sie, Johnny, das kann unsereiner nicht. Wir haben Phantasie. Wir tun keinem Vogel was zuleide, sofern es nicht gerade praktisch ist. Aber als Praktiker sind dann wir gefährlich. Wir Phantasien haben das Pulver erfunden. Man traut uns nichts zu. Aber wir sind es, die den Anstoß geben. Wir haben's als erste herausbekommen, daß es keine Realität gibt, und wir sind auch die ersten, die alle jeweils neuen erfinden!«

»Ach, Slim, Sie sind doch kein Phantast. Ich denke, Sie sind gerade das Gegenteil. Ich habe Sie wohl einmal unter dieser Marke beschimpft. Aber damals war ich schlechter Laune. Das müssen Sie mir zugute halten, Slim, ich bin jetzt manchmal recht nervös. Ich weiß nicht, was das ist. Ich glaube, es fehlt mir an Anregung. Oder ist es die Hitze? Ich weiß nicht – gerade vorhin habe ich einen solchen Anfall gehabt. Ihr beide waret so merkwürdig, ich hielt euch für irrsinnig, geradeheraus gesagt. Das lag aber wohl nur an mir. Ich kann übrigens bemerken, daß wir alle unter dieser Überreizung leiden. Auch Sie, Slim, was sagen Sie dazu?«[220]

Slim lächelte und starrte versonnen ins Feuer. Als van den Dusen die Harmonie gewahrte, die sich zwischen uns anspann, zog er sich verletzt in die Interieurs des Lagers zurück und demonstrierte das Opfer. Der arme van den Dusen! Da saßen die zwei und machten Partei gegen ihn!

Die schlechte Lebensart des Holländers brachte uns unwillkürlich einander näher. Slim bekam einen biederen Ton in die Stimme, der mich anheimelte. »Sie sind ein pedantischer Geist«, sagte er gutmütig, »Sie versuchen eine kleinherzige Ordnung in Dinge zu bringen, die in einer größeren sinnvoller aufgehoben sind. Sie denken zuviel und zu wahllos. Träumen Sie stark? ... Ja ja, ich weiß, Sie verachten den Traum. Sie mißtrauen den Resten, die davon in Ihrer Erfahrung zurückgeblieben sind. Das tut jeder. Aber tun Sie es nicht. Es wird Ihnen dann manches selbstverständlicher werden und Sie werden sich unerklärliche Dinge von innenheraus geschmeidig machen.«

»Das ist es, was ich Ihnen nicht glaube, Slim. Sie sind gar nicht so – fraulich, hätte ich beinahe gesagt, wie Sie sich oft äußern. Aber fraulich ist nicht das richtige ...«

»Ursprünglich?« half Slim aus. »Sie meinen, ich besäße wohl gar nicht diese anmutige Weichheit des Geistes, wie sie – nun, sagen wir – den Wilden auszeichnet? Hm, das ist wohl möglich. Sie entschuldigen, wenn ich darauf überhaupt nicht eingehe. Aber es wäre beinahe ein Zeichen dieser Anmut, daß ich mir gar nicht über sie, beziehungsweise über mein Verhältnis zu ihr und ihre Echtheit an mir klar werden will: jedenfalls ist es ein Zeichen ihrer Abwesenheit, sobald jemand sich in dieser anmaßenden und mißtrauischen Weise mit sich selbst beschäftigt. Es liegt etwas Sklavisches und Furchtsames darin. Der herrische Geist kritisiert sich nicht; es wäre ihm vermutlich gleichgültig, sich auf Lügen oder Lücken draufzukommen; er ist vertrauensvoll durch sein Dasein. Ich bin bereit zuzugeben, daß Ursprünglichkeit und geistige Hingabe bei mir Programm sind: aber da mich diese Erkenntnis nicht erschüttern würde, entfällt sie. Denn eine seelisch so wirkungslose Erkenntnis ist überhaupt keine. Sie verstehen das Wesen des Glaubens nicht. Ihnen ist der Gläubige ein Dummkopf. Aber das ist er gar nicht. Er beherrscht Biologie und höhere Mathematik. Es ist diese ganz unäußerliche und der logischen Pölzung entratende Stabilität – ich sehe mich außerstande, Ihnen dies auch nur entfernt anzudeuten. Sie haben es nicht. Und der es hat, hat es. Damit ist die Sache entschieden. Ein Sklave kann ein Freigelassener[221] werden – aber kein Herr. Haben Sie bemerkt, daß alle Herrennaturen gläubig waren und daß der Skeptizismus aus dem Geist der Sklaven kommt: ja, aus dieser hämischen Kammerdienerseele vor dem Schlüsselloche, he? Ich will gleich sagen, die Anwesenden sind ausgenommen, hehe ...«

»Danke schön. – Aber wie meinen Sie das nun: Sie glauben – woran? An Träume – –?«

»Nein. Ich glaube nicht an Träume. Ja, ja. Das ist so eine Sache. Ach, ich kann es nicht erklären. Es ist ganz anders, als so gerade drauflos. Nein ich erkläre es Ihnen doch. Der Traum ist nicht unlogisch. Seine Logik ist im Gegenteile strenger. Ein Spazierstock, der im Boden steckt, kann etwas Furchterregendes, er kann das Grauenvolle selbst sein. Denn es ist unmotiviert, daß er dasteht. Er steht ein wenig schief: und dieser stumpfe Winkel hat eine infame Bedeutung, er kann eine Katastrophe versinnbildlichen. Eine ganz schäbige, flüchtige, gemeine Handlung kommt in ihm zum Ausdruck. Es ist eine stählerne Logik darin. Nur der Traum ist rational. Er kennt nichts Zufälliges oder Wirkungsloses.«

»Aber er ist doch nur etwas Sekundäres«, sagte ich. »Er ist ein Anhängsel zum Leben, ein Nebengebäude.«

»Nein«, sagte Slim rasch, »Sie irren. Was Sie im Traum erleben, erleben Sie in einer anderen Welt; aber es gehört zur Totalsumme Ihrer Erlebnisse; jetzt leben Sie. Sie wissen nichts vom Traum. Sie träumen: Sie wissen nichts vom Leben, Sie erinnern sich daran wie an einen Traum. Beide Erlebnisse sind real, nur der Akzent ist geändert. Solange Sie wachen, scheint Ihnen die Wachlogik die kompaktere; im Traum aber zweifeln Sie keinen Augenblick an der Traumlogik. Was ist schließlich jede logische Deutung: etwas Unlogisches, eben eine Deutung, eine Dichtung. Nehmen Sie allein den Fall an, daß Sie sich während eines unruhigen Schlafes den Rücken an der Bettkante verletzt haben; Sie träumen im gleichen Augenblick, daß Sie jetzt jemand, und zwar auf der Stelle, in den Rücken stoßen wird. Vermutlich ist beides eine Ausrede; aber jedes ereignet sich in einer logischen Welt für sich, an der Sie teilhaben ...«

»Ja, aber wie erklären Sie das? Es muß doch eine Erklärung geben?«

»Nein, ich erkläre es gar nicht. Ich gestehe Ihnen hier, und mit einigem Stolze, daß ich absolut kein Bedürfnis nach solchen Erklärungen habe. Das Wunderliche an den Dingen ist für mich genau so befriedigend wie das Erklärliebe. Das Erklären ist eine bürgerliche[222] Konvention und man wird es überwinden, wie man die bürgerliche Moral überwunden hat. Der vollständig voraussetzungslose Mensch ist gläubig; abergläubisch wenn Sie wollen; aber gewiß in einem stark menschlichen und reifen Sinne. Erklären? Erklären muß man das, was man nicht einordnen kann. Aber ich ordne das Seltsame ein; ich begreife es so rund und innig, wie ich etwas Begründetes begreife. Es ist gar kein Trieb zur Erklärung in mir; es macht mich nicht zwiespältig. Das Seltsame ist das Vollendete. Es ist gerade und rüstig wie eine Tatsache.«

»Tatsache?«

»Tatsache! Warum mißverstehen Sie mich? Ich leugne ja die Tatsachen nicht, vor allem nicht ihren Wert. Im Gegenteil; ich bin ein solcher Liebhaber von Tatsachen, daß ich sie verkürzt finde. Es gibt viel mehr Tatsachen, als deren hingenommen werden. Es gibt Wachtatsachen und Traumtatsachen. Und was ich nun behaupte, ist dies: daß beide für das Individuum konstitutiv sind. Der Mensch besteht nicht nur aus dem, was er im Wachzustande, sondern auch aus dem, was er im Traume erlebt. Wir geben zu, daß er sich körperlich im Schlafe entwickelt. Aber auch seine Traumerfahrungen, dem Wachbewußtsein nur selten geläufig, gehören zu seinem seelischen Wachstum. Haben Sie das noch nicht bemerkt? Ich dächte, Sie wüßten dergleichen schon. Ich habe Sie eine Zeitlang beobachtet. Sie sind empfindlich, analytisch und hellseherisch. Ich berechne dies aus Ihrem Verhalten. Ich weiß, daß Sie den Hund erschießen wollten. Da ich dieselben Eigenschaften an mir habe, kann ich gewisse Handlungen mit einer nahezu exakten Methode zurückdatieren. Sie haben schwere Träume. Ich habe Beweise dafür. Es würde mich wundern, wenn Ihnen meine Gedankengänge zu schwer fielen – aber vielleicht sind Sie doch ein konventionellerer Geist als ich annahm!«

Ich war konventionell, aber ich sagte: »Ich verstehe Sie!«

»Ja«, fuhr er fort, »nun, sind Sie nicht auch der Meinung, daß der Traum rational ist? Es ist ganz seltsam. Was er nicht versteht, quittiert er mit Grauen. Ich habe jetzt zum Beispiel öfters einen Traum. Da steckt eine Klinge im Boden, sowie ich es vorhin von dem Spazierstock erzählt habe. Es ist eine dünne stark verschliffene Machetta. Sie steckt inmitten eines Farndickichts. Wer hat sie dorthin gesteckt? Es ist merkwürdig, wie sie da steckt, und es beschäftigt mich. Gleich daneben liegt ein Körper, der Körper einer toten Frau. Dieser Körper ist mir gleichgültig; ich fürchte mich nicht vor Leichen. Aber das Geheimnis, das in dieser schrägen Klinge[223] steckt, erregt mir ein Grauen. Es muß etwas Furchtbares in der Nähe sein, etwas Harmloses, Dummes, Durchschnittliches von einer sinnlosen Leidenschaft. Die Leiche könnte mich beruhigen, denn nun ist die Drohung, die aus dieser Klinge schielt, schon ausgeführt. Aber der Urheber ist unerkennbar. Dies beunruhigt mich im Traume. Sie sehen, wie gründlich und logisch, ich möchte beinahe sagen, wie moralisch der Traum verfährt!«

Ich zitterte. Eine unerklärliche Angst überlief mich. »Wieso haben Sie denn gerade diesen Traum?« sagte ich.

Ich glaubte zu sehen, daß Slim lächelte. »Kennen Sie ihn?« frug er. Es entstand eine Pause. Plötzlich sagte er mit betontem Leichtsinn in der Stimme. »Johnny, sagen Sie mal, hatten Sie an jenem Abende etwas mit Rulc zu tun?«

Ich erstarrte. Mein Gehirn stand still. Eine Erinnerung wollte sich formen und versagte.

»Erinnern Sie sich«, drängte Slim, »es war die Nacht vor dem Aufbruch.« Eine Erschütterung ging durch mein Gehirn, ich befand mich in blauem Lichte und wurde von einem schönen weichen Wehen getragen. Es war der Klang melodischer Hölzer. »Ich weiß es nicht!« schrie ich auf.

»Sie wissen es nicht?«

»Nein, um Gotteswillen, ich weiß es nicht. Ich hatte damals eine erregte Nacht. Ich schlief schlecht. Ich verstehe Ihre Frage nicht. Ja, es ist möglich, daß ich bei Rulc war. Aber ich habe den Verdacht, daß ich es mir während meines Fiebers nur zusammengereimt habe. Meine Phantasie arbeitet rastlos. Ich habe die Feuchtigkeit des Waldes nie recht vertragen. Sie wissen, wie das im Fieber ist: eine Kleinigkeit, ein Wort, ein Anblick genügen, um Selbsttäuschungen daran zu spinnen!«

Slim nickte unmerklich. »Erinnern Sie sich«, wiederholte er und sah mich ohne Härte, aber ruhig an, leise drückend wie ein Hypnotiseur. Er lächelte; dieses Lächeln war das Entsetzliche. »Erinnern Sie sich. Sie haben die Machetta in den Boden gesteckt. Sie taten dies aus zwei Gründen: es ekelte Sie, denn Sie sind zart, und Sie steckten die Klinge in die reine Erde. Sie haben guten Geschmack: Sie würden aus gutem Geschmack eine besonders leidenschaftliche Tat unterlassen – oder dann vergessen. Ihr Gedächtnis will nicht aufbewahren, womit Sie sich vor sich brüsten könnten. Sie fürchten Ihren Heroismus, denn Sie würden selbst dann nicht an ihn glauben, wenn er erwiesen wäre. Zweitens: Sie steckten die Klinge in den[224] Boden, damit sie nicht so leicht gefunden würde. Dies war natürlich falsch. Denn wenn jemand an die Leiche heranlief, weil er einen ganz tonlosen Seufzer gehört hatte, der ihm auffiel, so mußte er daran stoßen; es gab einen zitternden metallischen Klang, er bückte sich und bekam das Ding in die Hand – – –«

Er flüsterte und schielte mich mit kreuzweis gerichteten Augen über das Stirnbein an. Da löste sich der Draht, den er von seinen Augen aus um meine Stirne gedreht hatte. Ich mußte innerlich befreit lachen. »Ich verstehe Sie nicht«, konnte ich kalt sagen. »Ich habe mit dem Messer nichts zu tun gehabt. Es ist ja das Ihre. Ich habe es bei Ihnen gesehen – – –«

»Ja, es war einmal das Meine«, antwortete er nachdenklich, sich aus seiner zusammengefaßten Haltung streckend, »ich hatte es lange Zeit bei mir geführt – und nun ist es wieder in meinen Händen. Jaja, so habe ich es mir auch gedacht. Ich war aber nicht ganz sicher. – Nun sagen Sie mal«, rief er freudig, »da haben Sie gleich eine dieser sonderbaren Beziehungen zwischen den Wach- und Traumerfahrungen. Diese Machetta, mit der ich tagsüber den Wald dranchiere, kehrt in meinen Träumen wieder. Warum sollte also ich nicht noch einmal vorkommen?«

»Dies ist ein Fehlschluß!« lachten wir beide, eine versöhnliche Stimmung verpflichtete uns und wir besprachen diese seltsame Erscheinung des heftigen Traumes. »Tja, das ist sehr merkwürdig«, ging Slim von diesem Ausbruch der Heiterkeit zum Ernst der Debatte über. »Das Unerklärliche ist wohl ebenso vital wie das Erklärliche. Es ist unnütz, es verdrängen zu wollen. Ich werde dieses Rätsel der Machetta aus meinem Traum wohl nie lösen. Als Tatsache kommt es für mich kaum in Betracht; denn alles was um diese Machetta herum vor sich gegangen ist, kann kein Problem sein. Das Problem liegt allein im Ethischen möchte ich sagen, im Unerklärlichen, im Seltsamen; in dem Umstände, daß eine immerhin energische Tat so unvorhergesehen und vielleicht von der dazu gerade ungeeignetsten Person ausgeführt wird. Diese Verwunderung des natürlichen Geschehens über sich selbst kommt in meinem Träume durch die eigentümliche Stellung der in den Boden gesteckten Machetta zum Ausdruck: ja, der Traum wundert sich über die Unlogik des Wachzustandes. Er findet ihn schlecht motiviert und von widersinnigen Zufällen beherrscht. Er ist mit ihnen durch Gemeinsamkeiten verknüpft; es ist zum Beispiel möglich, daß zwei Individuen sich sowohl im Traume wie im Wachzustande treffen; es wäre vielleicht der Beweis für eine Art seelischer[225] Identität. Aber soweit will ich nicht gehen; es überanstrengt unseren Glauben und verletzt die Konvention unserer Erfahrungen allzusehr.«

Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915, S. 217-226.
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