Die Passionsblume

[26] Hochgebenedeite Pflanze,

Deren schöner Blüthenstern

Uns in mildem, weißem Glanze

Zeigt das Marterthum des Herrn;

Voller Blüthen seh' ich immer

Dich vor ihrem Fenster stehn:

Willst du denn, als eitler Schimmer,

Nur in Farb' und Duft vergehn?


Ward dir kein geheimes Leben

Unverwelklicher Natur

Von dem Heiland eingegeben,

Der dich pflanzt' in unsre Flur,

Als ein Bild von seinen Leiden,

Seinem bittern Liebestod,

Daß daran wir sollen weiden

Unsre Seel' in Lust und Noth?


Hast du nicht in stillen Stunden,

Heil'ge Blum', ihr zugehaucht

Das Geheimniß von den Wunden,

Von dem Dorn in Blut getaucht?

Esther schläft, und Träume schließen

Auf der reinen Seele Schrein:

Laß aus deinem Sterne fließen

Einen Strahl zu ihr hinein!

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 26.
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