Kinderfrühling

[262] Wollt euch nicht so schnell belauben,

Wälder, und mir wieder rauben

Diesen lieben Sonnenschein,

Den so lang' ich mußte missen,

Bis die Schleier er zerrissen,

Die den Himmel hüllten ein.
[262]

Zwischen knospenvollen Zweigen

Seh' ich auf und nieder steigen

Kleiner Vöglein buntes Heer,

Seh' sie schnäbeln, seh' sie picken,

Und die schwanken Reiser nicken,

Denen ihre Last zu schwer.


Und der klare blaue Himmel

Breitet hinter dem Gewimmel

Sich in stillem Frieden aus.

Wie durch kleine Fenstergitter

Spielt die Sonne mit Gezitter

Durch der Zweige Flechtenhaus.


Halbbegrünet stehn die Hecken,

Und die Nachbarskinder necken

Durch die dürren Lücken sich,

Bis das Mädchen röther glühet

Und zu dichtern Stellen fliehet

Vor dem Knaben jüngferlich.


Frühling, heute noch ein Knabe,

Treibet auf des Winters Grabe

Mit den Kindern seinen Scherz,

Bis der Gott der süßen Triebe

Mit dem Flammenpfeil der Liebe

Ihm durchbohrt das kleine Herz.


Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 262-263.
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