Das Hünengrab

[281] Schon wieder hundert Jahre!

Ich darf aus meiner Gruft

Heraus die Blicke senden

Und schöpfen frische Luft.


Die Luft so frisch wie immer,

Das Meer noch dunkelblau,

Die alten weißen Dünen,

Die junge grüne Au'!


Du, Mensch, nur immer kleiner,

Und größer stets dein Haus,

Die Gräber immer enger –

Wo denkst du, Mensch, hinaus?


Die erste Ruhestätte

Für eine Spanne Zeit,

Die bauest auf der Höhe

So prächtig und so weit.


Und läßt dein Grab dir graben

So eng', so kurz, so schmal,

Dort zwischen dumpfen Mauern,

Im tief versteckten Thal.


Dort mußt du lange wohnen,

Dort ist dein rechtes Haus,

Und darfst aus dem nicht gehen

Auf Berg und Strand hinaus.


Schau' ich aus meinem Grabe,

Ich schaue weit umher

Den hohen blauen Himmel,

Die Küsten und das Meer.
[281]

Das Meer, das ich durchschwommen

Mit meinem starken Arm,

Den Strand, wo ich gestanden

In meiner Feinde Schwarm


Du guckst aus deiner Grube.

In Wust und Graus hinein,

In schwarze Föhrenschatten,

Auf deinen Leichenstein.

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 281-282.
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