Vineta

[280] Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde

Klingen Abendglocken dumpf und matt,

Uns zu geben wunderbare Kunde

Von der schönen alten Wunderstadt.


In der Fluthen Schooß hinabgesunken,

Blieben unten ihre Trümmer stehn.

Ihre Zinnen lassen goldne Funken

Wiederscheinend auf dem Spiegel sehn.


Und der Schiffer, der den Zauberschimmer

Einmal sah im hellen Abendroth,

Nach derselben Stelle schifft er immer,

Ob auch rings umher die Klippe droht.


Aus des Herzens tiefem, tiefem Grunde

Klingt es mir, wie Glocken, dumpf und matt.

Ach, sie geben wunderbare Kunde

Von der Liebe, die geliebt es hat.


Eine schöne Welt ist da versunken,

Ihre Trümmer blieben unten stehn,

Lassen sich als goldne Himmelsfunken

Oft im Spiegel meiner Träume sehn.
[280]

Und dann möcht' ich tauchen in die Tiefen,

Mich versenken in den Wiederschein,

Und mir ist, als ob mich Engel riefen

In die alte Wunderstadt herein.


Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 280-281.
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