Reifer Herbst

[285] Nun laß den Sturm aus Norden wehn

und herbstlich sich die Fluren färben –

wir glauben nicht an Sterben,

an Sterben und Vergehn!

Uns wirft der früchtereife Baum

die roten Aepfel vor die Füße,

wir kosten ihre Süße

und schlürfen ihren Schaum.


Der Feuermohn im Gartenbeet,

ob seiner Flammen Pracht verlodert,

die Knisterseide modert: –

hochragend seine Kapsel steht.

Von meinem Drucke körnerschwer

zerspringt die reife Hülle, –

keimkräftigen Samens Fülle

streut rings der Wind umher.


Das ist das ewige Gebot

des ungestörten Weiterwebens:

eine neue Form des Lebens

ist jeder Tod.

Dem Frühling drum im Herbst ein Glas!

Wir trinken aus dem Vollen –

die goldenen Tropfen rollen,

Dankopfer, ins gelbe Gras....

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 285-286.
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