Maien-Fest

[284] Wieder taucht ein Maientag

aus des Winters Tiefen,

lockt ein heller Amselschlag

alle, die noch schliefen.

Wieder steht das goldene Licht

hoch im Heiligtume –

aus der Dornenhecke bricht

eine Rosenblume.


Maientag und Maienfest!

Unsre Klagen schweigen.

Unsre stolze Sehnsucht läßt

ihre Banner steigen;

ihre Tauben fliegen aus,

ihre Knospen springen –

Kirschen blühn um jedes Haus,

und die Glocken klingen.


Nicht im morschen Kirchenturm, –

tief in Volkes Herzen

wogt ein ganzer Glockensturm,

läutet Lust und Schmerzen.[284]

Nicht vergangne große Zeit

kündet unsre Feier,

von der Zukunft Herrlichkeit

heben wir den Schleier.


Unsre Ernten schauen wir,

reife goldne Felder,

stolzer Stämme Früchtezier,

schattenkühle Wälder.

Hunde nicht, die duckend sich,

scheu am Boden schleichen:

Menschen, welche brüderlich

sich die Hände reichen.


Von den Höhen ringsherum

will ein Echo klingen;

tönend wird, was rauh und stumm,

Lahmen wachsen Schwingen.

Blinde Augen werden wach,

schaun in blaue Weiten,

sehn den großen Frühlingstag

durch die Lande schreiten.


Maienfest und Maienlust! –

Axt und Hammer ruhen –

und der Alltag, schwarz berußt,

geht in seidnen Schuhen.

In den letzten Sklavenkrieg,

in der Tiefe Qualen,

wirft der Zukunft Sonnensieg

seine ersten Strahlen.

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 284-285.
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