Des Blinden Weihnachtsabend

[282] Halt meine Hand, ich führ dich gut.

Ich führe dich auf dunklen Wegen

dem Licht entgegen.

Ich führe dich durch dreißig Jahr –

und heut, wie seltsam wunderbar

will sich verschollne Sehnsucht regen!


Kein Laut. Die Violine schweigt.

Dein Auge schaut in finstre Weiten.

In heilige Nacht. Die Sterne gleiten

zu unsern Häuptern hell und klar.

Ich führe dich durch dreißig Jahr –

ach du, die alten Zeiten!


Die heilige Nacht – das war einmal!

das war, eh' unsern einzigen Jungen

der Krieg verschlungen....

Das war, als noch dem heiligen Kind

mit Tannenbaum und Angebind

dein jauchzend Lied erklungen!


Das war – ach du! das Lied der Qual,

dein Lied will keine Seele hören.

In vollen Chören

erschallt der Weihnacht Festchoral.

Halt meine Hand: das war einmal,

und einmal wird es wiederkehren!
[283]

Dann blüht für uns die heilige Nacht,

dann wird auch dir der Morgen grauen,

und du wirst schauen.

Und spielen wirst du laut und klar, –

und was wir träumten, das wird wahr.

Halt meine Hand. –


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 282-284.
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