Versöhnung

[281] O heut vergiß der Stachelreden,

der bösen Zeit, die einstmals war!

Es wob der Herbst die Silberfäden

uns schimmernd schon ins dunkle Haar;

und Stunden kamen bang und schmerzlich,

da eins das andere doch entbehrt . . .

o nun nach jahrelangem Meiden

ein Tag des Lichts erblüht uns beiden,

nun sei gegrüßt mir treu und herzlich:

die alten Schulden sind verjährt!


An jene holden Tage denke,

da uns gestreift des Frühwinds Wehn,

da wir des schönen Heut Geschenke

nur als Versprechen angesehn,

vom schönern Morgen uns gegeben . . .

denk unsres Jugendtraums, Marie!

Und soll's dir feucht das Auge rühren,

reich mir die Hand, ich will dich führen

zu seinem Grab, von Windesweben

umrauscht, von Wogenmelodie!


O schau nur hin! – Nach Sturmesbrausen

nach Ernteschlag und Wetterglut

liegt über den Gefilden draußen

ein leuchtender Spätsommertag.

Die Blumen welken uns zu Füßen,

im hohen Kelchglas perlt der Wein . . .

und siehst du aus dem Duft der Reben

der Frühlingsblüte Geister schweben? –

So laß mit diesem Trunk dich grüßen:

gesegnet soll dein Eingang sein!

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 281-282.
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