Wanderrast

[281] Hier laß uns ruhn; der Tag ist schwül

und weit der Weg, mein Kind.

Hier winkt ein Zeltdach schattig kühl,

ein Sammetpfühl –

und leise singt der Wind.


Hier laß mich ruhn, der ruhelos

die Welt durchzog in Hast;

am Silberquell im Waldesschoß

auf Laub und Moos

blüht mir die Wanderrast.


Nun birg dein Haupt, blondlockig Kind,

an meiner Brust zur Ruh;

der Vogel ruft, es wirft der Wind

uns weich und lind

taufeuchte Blüten zu.


Es singt der Quell ein Märlein alt

vom Knaben, welcher kühn

die Wunderblume brach und bald

im Felsenspalt

viel Schätze sah erglühn. –


Dein Haar ist Gold, es will dein Mund

rubinenrot erglühn –

mich lockte der Schatz: in Waldesgrund

seh ich zur Stund

die Wunderblume blühn.

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 281.
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