Die Sterbende

[55] Heil! dies ist die letzte Zähre,

Die der Müden Aug' entfällt!

Schon entschattet sich die Sphäre

Ihrer heimathlichen Welt.

Leicht, wie Frühlingsnebel schwinden,

Ist des Lebens Traum entflohn,

Paradiesesblumen winden

Seraphim zum Kranze schon!


Ha! mit deinem Staubgewimmel

Fleugst, o Erde, du dahin!

Näher glänzt der offne Himmel

Der befreiten Dulderin.

Neuer Tag ist aufgegangen![55]

Herrlich stralt sein Morgenlicht!

O des Landes, wo der bangen

Trennung Weh kein Herz mehr bricht!


Horch! im heilgen Hain der Palmen,

Wo der Strom des Lebens fließt,

Tönt es in der Engel Psalmen:

Schwesterseele, sei gegrüßt!

Die empor mit Adlerschnelle

Zu des Lichtes Urquell stieg;

Tod! wo ist dein Stachel? Hölle!

Stolze Hölle! wo dein Sieg?

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 55-56.
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