Die Kinderjahre

[162] 1790.


Die Pappelweide zittert

Vom Abendschein durchblinkt,

Wo, von Schasmin umgittert,

Die Laube traulich winkt,[162]

Und mit geflochtnem Pförtchen,

Das auf den Weiher sieht,

Ein ländlichstilles Gärtchen

Die Halmenhütt' umblüht.


Vom Opfer des Atriden

Im goldnen Opernsaal

Eilt' ich zu deinem Frieden,

Umbüschtes Rhonethal!

Nach Einsamkeit nur schmachtend

Wähl' ich die Gartenthür,

Der Landschaft Reiz betrachtend,

Zur Opernloge mir.


Dies Dach mit dunklem Moose,

Dies frische Rebengrün,

Dies Beet wo Malv' und Rose

Und Nachtviole blühn;

Die unbeschorne Hecke,[163]

Der Hopfenranke Wehn,

Der Hof wo Bienenstöcke

Im Fliederschatten stehn;


Der Brunnenröhre Rauschen,

Die Scheur' am Haselzaun,

Wo Täubchen Küsse tauschen

Und treue Schwalben baun:

Dies alles zaubert, milder

Als Abendsonnenblick,

Die rosenfarbnen Bilder

Der Kindheit mir zurück.


Du, deren goldnem Stabe

Die Nebelsäule weicht,

Die aus dem dunklen Grabe

Geschiedner Jahre steigt,

O Phantasie! erhelle

Der ersten Pfade Spur

Und jede Blumenstelle

Der väterlichen Flur.


Ich seh' des Dorfes Weiden,

Des Wiesenbaches Rand,

Wo ich die ersten Freuden,

Den ersten Schmerz empfand;

Den Plaz, wo, unter Maien,

Auf weißbeblümtem Plan,

Beim Jubel der Schallmeien,

Der Mondscheintanz begann;


Den Hag, wo Nachbars Lotte

Zur Veilchenlese kam,

Den Teich, wo meine Flotte

Von Tannenborke schwamm;

Die alten Eichenstümpfe[164]

Am schilfumrauschten Moor,

Die blaue Wassernymphe

Gewiegt am schlanken Rohr;


Die Au', wo ich, am Bache,

Mir Zweigpalläste wob,

Wo der papierne Drache

Sich in die Lüft' erhob;

Des Meierhofes Hügel

Im stillen Fruchtbaumhain,

Der Mühle rasche Flügel

Am saatengrünen Rain;


Die Sträuche, wo die Schlinge

Den Zeisig oft betrog,

Wo nach dem Schmetterlinge

Mein leichter Strohhut flog;

Das Rohrdach dessen Nester

Ich ritterlich verfocht,

Die Bank wo meine Schwester

Cyanenkränze flocht;


Das Beet, wo, frisch wie Hebe,

Im weissen Lenzgewand,

Sie an bemalte Stäbe

Levkoj' und Nelke band;

Die Schule, dumpf und düster,

Umrankt von Wintergrün,

Wo uns der ernste Küster

Ein Weltgebieter schien.


Ich seh' des Kirchhofs Bäume,

Der Gräber hohes Gras,

Wo ich so oft die Reime

Der Leichensteine las;[165]

Das Flittergold im Kranze

An junger Bräute Gruft,

Im bleichen Vollmondsglanze

Ein Spiel der Sommerluft;


Den Steintisch, wo der Krieger,

Ein Held bei Sorr und Prag,

Von Roßbachs grossem Sieger,

Von Kleist und Ziethen sprach;

Die Tenne, wo der Schnitter

Sein braunes Mädchen schwang

Wenn froh des Bergmanns Zitter

Zum Erntereih'n erklang;


Den Brettersiz am Weiher,

Seit grauer Väterzeit

Dem Spiel der rothen Eier

Am Ostertag geweiht;

Die Laube von Hollunder,

Wo, auf der Rasenbank,

Ich einsam in die Wunder

Der Feenwelt versank.


Da glaubt' ich grüne Zwerge

Mit diamantnem Speer

Und vom Magnetenberge

Die schauerliche Mähr;

Die Hütte ward zum Schlosse,

Der Teich zum Silbersee,

Mein Steckenpferd zum Rosse,

Die Nachtigall zur Fee.


Da spottet' ich der Nebel

Von Grillenfang und Gram,

Selbst wenn im Kampf den Säbel

Der stolze Feind mir nahm;[166]

Wenn ich der Schwester Freude,

Den Hänfling, sterbend fand,

Und, ach! das Roth am Kleide

Der Bleisoldaten schwand.


Da war, im Abendscheine,

Ein stilles Veilchenthal

Am Nachtigallenhaine

Mir Ball- und Opernsaal!

Der Seifenblase Schimmer

Entzückte königlich,

Wie nie die Demantflimmer

Der Maskentänze, mich.


Da fühlt' ich von Verlangen,

Sah' ich am Himmelszelt

Die goldnen Lampen prangen,

Mein ahndend Herz geschwellt:

Doch mehr denn Stern' und Sonne

War in des Mondes Rund

Der Jäger meine Wonne

Mit Dornenbusch und Hund.


Da schien der Geisterweihe

Gefürchtetes Revier,

Des Brockens ferne Bläue,

Des Weltalls Grenze mir;

Ich wußte von den Kreisen

Der Erd' und ihrem Gleis

Was ich vom Stein der Weisen

Und von Heraldik weiß.


Da floß mir keine Zähre,

Neapels Götterau'n,

Verklärung, Belvedere

Und Kapitol zu schaun;[167]

Es war die Tufsteinhöle

Zum Kunstsaal mir genug,

Und meine Raphaele

Fand ich im Ritterbuch.


Da wurde, von den Flocken

Des Januars umstürmt,

Mit jubelndem Frohlocken

Der Schneemann aufgethürmt!

Den Kirchenhügel glitten,

Gelenkt vom Eisenstab,

Im zephyrleichten Schlitten

Wir pfeilgeschwind hinab.


Im öden Weltgewühle

Hebt Wehmuth meine Brust,

Denk' ich der Knabenspiele

Und ihrer Götterlust!

Zu schnell verrauschte Jahre

Der Unbefangenheit,

Was, zwischen Wieg' und Bahre,

Gleicht eurer Seligkeit?


O väterliche Fluren!

Welch Tempe, welche Schweiz

Trägt eurer Wonnespuren

Unsäglich holden Reiz?

Hoch auf beschneiten Gipfeln

Und auf erzürntem Meer

Weht sanft aus euren Wipfeln

Erquickung zu mir her!


Wenn mondlos mich die Hülle

Der Mitternacht umwallt

Und durch die Todtenstille

Nur meine Klage schallt:[168]

Lacht mir von euren Gränzen

Ein Stral von Seelenruh',

Wie abendliches Glänzen

Nach Ungewittern, zu.


Durchsegle kühn die Meere

Wie Cook und Magellan;

Erfleug das Ziel der Ehre

Auf nie beflogner Bahn;

Erblick, ein Stolz der Musen,

Dein Bild in Erz und Stein;

Ruh' an Cytherens Busen

In Amors Mirthenhain;


Gieb Königen Geseze;

Sei Herr von Perus Gold;

Gebeut im Reich der Schäze

Die uns Golkonda zollt;

Vereine was auf Thronen

Der Erdball staunend preist

Und beide Lorbeerkronen

Wie Friederich und Kleist:


Umsonst! der Sorgen Heere

Durchschwärmen, ohne Rast,

Den Glanz am Ziel der Ehre,

Den Goldsaal im Pallast!

Bei Todis Zauberkehle

Bleibst du in Gram verhüllt,

Du strebst nach Ruh' der Seele

Und greifst ein Schattenbild!


Entflohn dem Kriegsgetümmel

Trübt Unmuth deinen Blick;

Umglänzt vom Alpenhimmel

Verklagst du dein Geschick;

Du spähst auf fernem Boden

Des Friedens dunkle Spur:

Betrogner, ach! sein Oden

Umweht die Kindheit nur.
[169]

Sie sieht im Frühlingshaine

All' ihre Freuden blühn!

Es wallt in Rosenscheine

Ihr Blumenleben hin!

Nie hat der Gott der Zeiten,

Der Unschuld ewig hold,

Das Buch der Möglichkeiten

Vor ihrem Blick entrollt!


Ach! bis zu Charons Kahne

Schweift unsrer Wünsche Noth;

Der Kindheit leichte Plane

Begrenzt das Abendroth!

Wir ahnden Sturm und Klippen

Bei frühlingsheitrer Fahrt:

Sie hängt mit Bienenlippen

Nur an der Gegenwart!

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 162-170.
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