Im Dunkel der Vorzeit

[319] »Es war finster in der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser,« heißt es zu Anfange der mosaischen Versuche, die Entstehung der Erde in einer Weise darzustellen, welche dem beschränkten Denkvermögen des einfachen Menschen angemessen und leicht verständlich ist. »Es war finster auf der Tiefe,« und noch heut herrscht jene Finsterniß, welche uns jede Aufklärung verweigert, wenn wir es versuchen, in den Gang der Weltanfänge einzudringen. »Finsterniß bedeckte das Erdreich und Dunkel die Völker,« heißt es in einer späteren Stelle der biblischen Schriftensammlung, wie wir überhaupt in der letzteren sehr oft einer Hinweisung auf die »Finsterniß und Schatten des Todes« begegnen.

»Tausend Jahre sind vor ihm wie ein Tag,« sagt die Schrift, und dieser »Tag des Geschehenen« hat seine Nacht, seine Dämmerung, seine Morgenröthe, seinen Sonnenaufgang, seinen Morgen, Mittag und Abend, wie ein jeder von einer einmaligen Umdrehung unsers Planeten hervorgerufene Erdentag. Wenn der orientalische Dichter sagt:


»Wenn um die Berge von Befour

Des Abends dunkle Schatten wallen,

Dann tritt die Mutter der Natur

Hervor aus unterird'schen Hallen,«


so bezeichnet er mit der »Mutter der Natur« ganz richtig die Nacht als den Schooß, welcher verborgenes Leben in sich trägt, um es bei »siegender Morgenröthe« an das Licht zu gebären. Schwarz ist die Nacht, schwarz und farblos, aber nicht, weil sie keine Farbe hat, sondern weil sie alle Farben des Sonnenlichtes eingesogen hat und in ihrem Dunkel verborgen hält. So auch die große, lange Nacht, welche den Zeiten vorangeht,[319] die dem Auge des Geschichtsforschers leise und allmälig entgegendämmern. Sie ist nicht thaten-, nicht bewegungslos, wie es scheinen möchte, sondern es vollziehen sich in ihrer Verborgenheit die gewaltigsten physikalischen Ereignisse und Bewegungen; die natürlichen Gewalten, den himmlischen Gesetzen zwar unterthan, aber in einer scheinbar ungeregelten titanenhaften Thätigkeit, spielen, weltenschleudernd, mit den gigantischen Massen des unentwirrten Chaos; Sonnen fluthen durch Sonnen, Sterne thürmen sich über Sterne, brechen zusammen, durchkreuzen und umkreisen sich, suchen neue Bahnen, ziehen sich an, stoßen sich ab, bis allmälig – aber dieses allmälig umschließt Jahrmillionen – sichtbare Regel und Ordnung sich in den Bewegungen zeigt und jede einzelne Welt als ein in sich abgeschlossener Körper eine Individualität erhält, welcher es gegeben ist, eine selbstständige und unabhängige Geschichte zu entwickeln.

Als Bestandtheil des Chaos gehörte die Erde vollständig dem Urstoffe der Schöpfung an; sobald sie anfing sich zu gestalten und ihre Trennung von der unendlichen Materie vollzog, begann sich ihre »Persönlichkeit« zu entwickeln, die erste Secunde ihres individuellen Daseins hatte begonnen, und die Geschichte durfte ihr theilnehmendes Auge auf den um die Sonne wirbelnden Sphäroiden richten, um die Geburtsstunde der irdischen Natur zu verzeichnen.

»Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – sind unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen.

Sie schafft ewig nur Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder: Alles ist neu und doch immer das Alte.

Sie scheint Alles auf Individualität gelegt zu haben und macht sich nichts aus dem Individuum. Sie baut immer und zerstört immer, und dabei ist ihre Werkstätte unzugänglich.

Sie lebt in bunten Kindern, und die Mutter, wo ist sie? Sie ist die einzige Künstlerin; aus dem simpelsten Stoffe zu den größten Contrasten, ohne Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung, zur genauesten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem durchzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isolirtesten Begriff, und doch macht Alles Eins aus.[320]

Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und es ist kein Moment Stillstehen in ihr. Für's Bleiben hat sie keinen Begriff, und an den Stillstand hat sie ihren Fluch gehängt. Sie ist fest, ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.

Sie läßt jedes Kind an ihr künsteln, jeden Thoren über sie richten, Tausende über sie stumpf hingehen und nichts sehen, und hat an Allen ihre Freude und findet bei Allen ihre Nahrung.

Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. Alles, was sie giebt, macht sie zur Wohlthat, denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie säumt, damit man sie verlange; sie eilt, damit man sie nicht satt werde.

Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Herrin ist die Liebe, und nur durch diese kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und Alles will sie verschlingen. Sie hat Alles getrennt, um Alles zusammenzuziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein ganzes Leben voll Mühe schadlos.

Sie ist Alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst; sie erfreut sich selbst und quält sich selbst. Sie ist rauh und polirt, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht, und Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man erzwingt sich keine Erklärung von ihr und trotzt ihr kein Geschenk ab, welches sie nicht freiwillig giebt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ist's, ihre List nicht zu bemerken.

Sie ist ganz und doch immer unvollendet. So wie sie's treibt, so kann sie's immer treiben. Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Gestalten, und doch ist sie immer und ewig dieselbe.

Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten, denn sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr: nein, was wahr ist und was falsch ist, Alles hat sie gegeben. Alles ist ihre Schuld; Alles ist ihr Verdienst!« –[321]

So sprach im Jahr 1780 Göthe. Wir dürfen uns wohl fragen, was man eigentlich unter dieser »Natur« zu verstehen habe, die Alles kann und Alles thut und welche sogar von Unzähligen an die Stelle Gottes gesetzt wird. Bei näherer und leidenschaftsloser Betrachtung erkennen wir in ihr nichts anderes als das Ensemble der Gesetze und Kräfte, deren sich der Schöpfer zu seinem erhabenen Werke bediente, und die noch heute fortwirkend thätig sind.


»Und Herr ist er. Im Sternenheer

Erblickst du seiner Größe Spur;

Sein Fuß ruht in dem Weltenmeer,

Und sein Gesetz ist die Natur


singt ein neuerer Dichter, indem er sich mit diesen Worten zu der einzig richtigen Weltanschauung bekennt, daß ein allmächtiger Gott der Urheber aller Gesetze, Kräfte und kreatürlichen Erscheinungen sei. Das, was wir Natur nennen, ist nicht eine aus sich herauswirkende Kraft, sondern der in fortwährender Wirkung sich offenbarende schöpferische Wille Gottes. Dieser Wille ist ein ewig weiser, der, obgleich unendlich frei, sich selbst und das Erschaffene an unumstößliche Gesetze bindet und Nichts durch einen Machtspruch, sondern Alles nur durch ein allmäliges Werden entstehen läßt. Das biblische »Es werde« gehört nicht einem kurzen Augenblicke an, sondern es tönt noch heute fort, und die sechs Tage der Schöpfung sind noch nicht vollendet, trotzdem vom ersten Stundenschlage der Zeitlichkeit an Millionen und Abermillionen von Jahren vergangen sind.

Die Berichte unserer Religionsbücher über die Entstehung der Erde enthalten die Anschauungen eines noch kindlichen Denkvermögens, und der starre, todte Buchstabenglaube hält an diesen Vorstellungen fest, trotzdem die Wissenschaft mit allen ihren Triumphen nicht nur keine Feindin des lebendigen und wahren Gottesglaubens ist, sondern geradezu den einzigen Weg bietet, welcher zur Erkenntniß des Ewigen führt. Und die Natur ist das Gebiet, durch welches dieser Weg führt, mühevoll zwar und anstrengend, aber sicher und untrüglich. Sie allein ist im Stande, uns Aufschluß zu ertheilen über die gewaltigen Vorgänge der Weltenentstehung; und wenn die Geschichte von der Schöpfung auszugehen hat, so ist ihre erste Frage an die Wissenschaft gerichtet, welche aus der gegenwärtigen Beschaffenheit der Erde auf die vergangenen Perioden ebensowohl, als auch auf die Art und Weise der Entstehung unserer Planeten schließt.[322]

Der natürliche Schöpfungsbericht, wie ihn die Paläontologie liefert, ist eine Geschichte der Erde, unvollständig erhalten und in wechselnden Dialekten geschrieben, wovon aber nur der letzte, blos auf einige Theile der Erdoberfläche sich beziehende Band bis auf uns gekommen ist. Doch auch von diesem Bande ist nur hier und da ein kurzes Kapitel erhalten, und von jeder Seite sind nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechselnden Sprache dieser Beschreibung, mehr oder weniger verschieden in der ununterbrochenen Reihenfolge der einzelnen Abschnitte, mag den anscheinend plötzlich wechselnden Lebensformen entsprechen, welche in den unmittelbar auf einander liegenden Schichten unserer weit vor einander getrennten Formationen begraben liegen.

Trotz der Unvollständigkeit dieses Schöpfungsberichtes ist es der Wissenschaft doch ermöglicht, auf die Hauptfragen der Entstehungsgeschichte einzugehen. Wir haben es hier mit dem Menschen zu thun, welchen die Bibel vom sechsten Schöpfungstage, ohne allen Zusammenhang mit den anderen geschöpflichen Formen entstehen läßt. Ohne uns bei der Frage nach der Entstehung des Menschen mit der Aufzählung der verschiedenen Philosophien und Ansichten aufzuhalten, fühlen wir uns nur zu der Bemerkung verpflichtet, daß es keineswegs eine Irreligiösität enthält und von Unglauben zeugt, wenn man den Menschen als eine Stufe in der Schöpfungsleiter sich aus den höher entwickelten Thierformen entstanden denkt. Es scheint uns vielmehr eine Beleidigung der göttlichen Weisheit zu sein, anzunehmen, daß der Mensch eine Ausnahme von der großen Schöpfungsregel bilde. Wenn die Darwinsche Entstehungslehre folgende Ahnenreihe des menschlichen Stammbaumes aufstellt:


Thierische AhnenstufeLebende nächste Verwandte

des Menschen:der Ahnenstufe:

Monoren...Peotogenes,

Einzelne Urthiere...Einfache Amooben,

Vielzellige Urthiere...Amoobengemeinden,

Flimmerschwärmer...Blastulalarven,

Urdarmthiere...Gastrulalarven,

Urwürmer...Strudelwürmer,

Weichwürmer...Scolociden,

Chordathiere...Seescheiden,

Schädellose Wirbelthiere...Lanzetthiere,

Unpaarnasen...Lampreten,[323]

Urfische...Haifische,

Lurchfische...Molchfische,

Kiemenlurche...Olm,

Schwanzlurche...Wassermolche,

Uramnioten...Protamnia,

Ursäuger...Schnabelthiere,

Beutelthiere...Beutelratten,

Halbaffen...Lori, Maki,

Geschwänzte Catarthiere...Nasenaffen, Schlankaffen,

Menschenaffen...Gorilla, Schimpanse, Orang,

Gibbon,

Affenmenschen...Stumme, Krotinen und

Microcopholen,

Sprechende Menschen...Australier und Papuas,


so liegt darin keineswegs eine Entwürdigung des menschlichen Geschlechtes; die Art und Weise, wie wir geschaffen wurden, ob wir aus einem Erdenkloße entstanden sind oder unser Dasein einer durch die Thierstufen gehenden Entwickelung verdanken, das ist nicht die Hauptsache, sondern die Bedeutung hat auf die Frage zu fallen: Wer uns geschaffen?

Wenn angenommen werden muß, das alle Menschenarten erst durch Differenzen aus einer einzigen Species von Urmensch (Homo primigenius) entstanden sind, so giebt es für das Menschengeschlecht nur eine einzige Urheimath, in welcher dasselbe sich aus einer längst ausgestorbenen anthropoiden Affenart entwickelt hat. Von den jetzt existirenden fünf Welttheilen kann weder Australien, noch Amerika, noch Europa die Urheimath oder das sogenannte »Paradies«, die »Wiege der Menschheit« sein. Vielmehr deuten die meisten Anzeichen auf das südliche Asien. Außer diesem könnte von den gegenwärtigen Festländern nur noch Afrika in Frage kommen. Es giebt aber eine Menge von Anzeichen besonderer chorologischer Art, welche darauf hindeuten, daß die Urheimath des Menschen ein jetzt unter dem Spiegel des indischen Oceans versunkenes Continent war, welches sich im Süden des jetzigen Asiens, und wahrscheinlich mit ihm im directen Zusammenhange, einerseits östlich bis nach Hinterindien und den Sunda-Inseln, anderer seits westlich bis nach Madagaskar und dem südöstlichen Afrika erstreckte. Sehr viele Thatsachen sowohl der Thier- als auch der Pflanzengeographie machen die frühere[324] Existenz eines solchen südindischen Continentes sehr wahrscheinlich, und ist von den Gelehrten wegen der für ihn charakteristischen Halbaffen ihm der Name Lemuria gegeben worden. Wenn wir dieses Lemurien als Urheiheimath annehmen, so läßt sich daraus am leichtesten die geographische Verbreitung der divergirenden Menschenarten durch Wanderung erklären.

Indessen es ist auch sehr möglich, daß die hypothetische Wiege des Menschengeschlechtes weiter östlich, in Hinter- oder Vorderindien, oder weiter westlich, im östlichen Afrika, lag. Künftige, namentlich vergleichend anthropologische und paläontologische Forschungen werden uns hoffentlich in den Stand setzen, die vermuthete Lage der menschlichen Urheimath genauer zu bestimmen als es gegenwärtig möglich ist.

Zöge man der ausgesprochenen Ansicht dagegen die Annahme vor, daß die verschiedenen Menschenarten aus mehreren verschiedenen anthropoiden Affenarten durch allmälige Vervollkommnung entstanden sind, so scheint unter den vielen hier möglichen Hypothesen am meisten Vertrauen diejenige zu verdienen, welche eine zweifache Wurzel des Menschengeschlechtes annimmt, eine asiatische und eine afrikanische. Es ist nämlich eine sehr bemerkenswerthe Thatsache, daß die afrikanischen Menschenaffen (Gorilla und Schimpanse) sich durch eine entschiedene langköpfige Schädelform auszeichnen, ebenso wie die in Afrika eigenthümlichen Menschenarten (Hottentotten, Kaffern, Neger, Nubier). Auf der andern Seite stimmen die asiatischen Menschaffen (insbesondere der große und der kleine Orang) durch ihre deutlich kurzköpfige Schädelform mit den vorzugsweise für Asien bezeichnenden Menschenarten überein (Mongolen, Malayen). Man könnte daher wohl versucht sein, die asiatischen Menschenaffen und Urmenschen von einer gemeinsamen kurzköpfigen, die afrikanischen Menschenaffen und Urmenschen aber von einer gemeinsamen Affenform abzuleiten.

Wie die vom Affen auf den Menschen überspringende Stufenleiter von den untersten Arten des Letzteren nach Aufwärts steigt, möge folgende Tabelle zeigen, welche die 36 Menschenrassen in 12 Species vereinigt:


Species:Rasse:

1.Papua...1. Negritos.

Papua...2. Neuguineer.

Papua...3. Melanesier.

Papua...4. Tasmanier.[325]

2.Hottentotte...5. Hottentotten.

Hottentotte...6. Buschmänner.

Hottentotte...7. Zulukaffern.

3.Kaffer...8. Beschuanen.

Kaffer...9. Congokaffern.

4.Neger...10. Tibu-Neger.

Neger...11. Sudan-Neger.

Neger...12. Senegambier.

Neger...13. Nigritier.

5.Australier...14. Nordaustralier.

Australier...15. Südaustralier.

6.Malaye...16. Sundanesier.

Malaye...17. Polynesier.

Malaye...18. Madagassen.

7.Mongole...19. Indochinesen

Mongole...20. Corea-Japaner.

Mongole...21. Altajer.

Mongole...22. Uralier.

8.Arktiker...23. Hyperboräer.

Arktiker...24. Eskimos.

9.Amerikaner...25. Nordamerikaner.

Amerikaner...26. Mittelamerikaner.

Amerikaner...27. Südamerikaner.

Amerikaner...28. Patagonier.

10.Dravidas...29. Dekaner.

Dravidas...30. Singalesen.

11.Nubier...31. Dongolesen.

Nubier...32. Fulater.

12.Mittelländer...33. Kaukasier.

Mittelländer...34. Basken.

Mittelländer...35. Hamosemiten.

Mittelländer...36. Indogermanen.


Als 13. Species könnte man noch die Bastarde der angegebenen Arten anführen, welche in allen Welttheilen, vorwiegend jedoch in Amerika und Asien sich vorfinden.

Was nun den Zeitraum betrifft, innerhalb dessen langsam und[326] allmälig die Umbildung der menschenähnlichsten Affen zu den affenähnichsten Menschen stattfand, so läßt sich diese natürlich nicht nach Jahren, auch nicht nach Jahrhunderten bestimmen. Sicher ist, daß der Mensch als solcher schon während der Diluvialzeit gleichzeitig mit vielen großen, schon längst ausgestorbenen Säugethieren, namentlich dem Mammuth, dem wollhaarigen Nashorn, dem Riesenhirsch, dem Höhlenbär, Höhlentiger, der Höhlenhyäne etc. lebte. Jedenfalls geht die Existenz des Menschengeschlechtes auf mehr als zwanzigtausend Jahre zurück. Wahrscheinlich aber sind seitdem mehr als hunderttausend Jahre, vielleicht viele Hunderte von Jahrtausenden verflossen, und es muß im Gegensatze dazu sehr komisch erscheinen, wenn noch heute unsere Kalender die »Erschaffung der Welt nach Calvisius« vor 5823 Jahren geschehen lassen. –

Wie die Organisation der Geschöpfe von Stufe zu Stufe überhaupt eine vollkommene wird, so sehen wir auch die seelischen Gefühle sich immer deutlicher entwickeln, immer bestimmter hervortreten. Und zwar nicht erst, wenn dem Körper eine unabhängige, freie und unwillkürliche Bewegung gestattet ist, beginnen diese Gefühle ihre Thätigkeit, sondern schon bei der Koralle und den anderen Thierarten, welche an die Stelle gebunden und geheftet sind, bemerken wir seelische Bewegungen, welche auf die Empfindungen von Freud und Leid schließen lassen. Sicher läßt sich annehmen, daß die Liebe mit ihren verschiedennamigen Abstufungen, mit all' ihren Verneinungen und Negationen ihre individuelle Thätigkeit, ihr subjectives Wirken schon bei diesen niedersten der Thierformen beginnt und bei jeder höheren Stufe steigert und erweitert.

Wenn wir die Stufenleiter der thierischen Wesen überblicken, so machen wir in Beziehung auf die seelischen Empfindungen derselben eine Entdeckung, die sich bei jeder neuen Stufe wiederholt: Sobald nämlich sich eine neue, höhere Stufe gebildet hat, haben die Individuen derselben um ihr Bestehen mit den zurückliegenden Formen zu kämpfen, und es erhebt sich eine Feindseligkeit, welche, durch Jahrtausende fortgehend, schließlich mit der Ausrottung, mit dem Verschwinden der vorangehenden Stufen endigt. Je entwickelter die Arten sind, desto auffälliger tritt diese Erscheinung an den Tag und desto schneller geschieht diese Ausrottung. Jede höhere Art zeigt sich als Feind der niederen Art, aus der sie doch entstanden ist, und so dürfen wir uns nicht wundern, der Mensch, als höchste irdische Daseinsstufe, sich zu den irdischen Geschöpfen in Feindschaft[327] gestellt hat. Es ist ihm die Idee gegeben, daß er Herr der Schöpfung sei und sie für einen speciellen Nutzen dominiren könne. Diese Idee ist die größte Feindin seiner Mitgeschöpfe, die wir um so schneller von der Erde verschwinden sehen, je näher sie mit ihr in Verwandtschaft stehen. Eine Ausnahme von dieser Regel giebt es nicht, und wenn gesagt würde, daß ja grad' die niedersten Thierformen in unzähligen Mengen vorhanden sind, obgleich sie längst ausgestorben sein müßten, so wird dieser Einwand sehr leicht durch die Bemerkung beseitigt, daß diese Thiere eben in einer so außerordentlichen Menge vorhanden gewesen sind, daß ihre jetzige Zahl eben nur die Wahrheit unserer Behauptung beweist.

Hat sich dann die neuentstandene Stufe so weit entwickelt, daß ihre Individuen zahlreich genug sind, sich gegenseitig in ihren verschiedenen Interessen beeinträchtigen zu können, so beginnt zwischen ihnen eine Feindseligkeit, welche ihre Kräfte von dem Kampfe gegen ihre Vorfahren einigermaßen abwendet und diesen Zeit zu einer kurzen Erholung bietet, die aber nichts weiter bildet, als einen kurzen Unterbrechungspunkt in dem Prozesse des allmäligen Verschwindens.

Je niedriger die Stufen sind, desto rücksichtsloser, grausamer und wilder wird dieser Vernichtungskampf betrieben, und nur die fortschreitende Entwickelung führt nach und nach zu der Erkenntniß, daß alles Bestehende soweit seine Berechtigung habe, als die ihr verliehene Aufgabe eine noch unvollendete ist und es die Mitgeschöpfe in der Lösung der ihrigen nicht stört und benachtheiligt. So sind zahlreiche Arten und Gattungen verschwunden, welche in unzähligen Mengen vorhanden waren, und so gehen auch die gegenwärtigen Formen, sobald sie sich nicht unter die Herrschaft des Menschen fügen, ihrem allmäligen Untergange entgegen. Die Liebe zur eigenen Art zeigt sich stets als Feind zu anderen Arten, das ist das große Entwickelungsgesetz, welchem alle organischen Wesen unterworfen sind.

Dieses Gesetz findet auch auf jedes Sonderverhältniß seine Anwendung, auf die Nation, das Volk, den Stamm, die Familie und jeden Einzelnen. Darum so viel Feindschaft, so viel Haß, Hader, Streit und Unfrieden unter den Geschlechtern der Menschen. Und weil nur die Entwickelung der höheren geistigen Einsicht zu der Erkenntniß führt, daß Friede und Eintracht die höchsten Güter der Nationen sind, so finden wir die Negationen der Liebe um so thätiger, je weiter wir in die Geschichte zurückblicken.[328] Die erste selbstständige That des Menschen war ein Brudermord, und seit Kain und Abel zieht sich dieser Brudermord in unzähligen Gestalten und Abwechselungen durch die Jahrhunderte bis herein in die Gegenwart. Der Eigennutz bestimmte das Thun und Lassen des Menschen, und wenn die Liebe ihre Thätigkeit langsam und schüchtern entfaltete, so geschah es doch nur in Form der geschlechtlichen Zuneigung. Und selbst diese war noch so wenig geregelt und geheiligt, daß wir gerade jenen dunklen Zeiten die Anfänge aller geschlechtlichen Verirrungen zuschreiben müssen, welche noch am heutigen Tage an der Gesundheit der menschlichen Gesellschaft zehren. Schon in jenen Anfängen der socialen Entwickelung und Gliederung tritt die Prostitution auf, welche wir noch jetzt als einen leider geduldeten Krebsschaden an dem socialen und sittlichen Körper der Menschheit zu bemerken haben. Wir können nicht umhin, ihr im Laufe unserer Betrachtungen einige Aufmerksamkeit zu schenken und werfen zunächst einen Blick auf die Art und Weise ihrer Entstehung:

Die Geschlechtsliebe des Menschen ist in der Schöpfung der mächtigst wirkende Hebel, welcher in den meisten Fällen seiner Handlungsweise diejenige Richtung giebt, welche entscheiden war und ist, auf die Entwickelung ganzer Nationen, auf die Schicksale mächtiger Völkerschaften.

Vom entferntesten Alterthume her bis in die modernste Neuzeit hinein hat die Liebe zum andern Geschlechte auf die Handlungsweise des Mannes einen nicht zu unterschätzenden Einfluß gehabt, und wer sich die Mühe nehmen wollte, eine Weltgeschichte nach Maitressenepochen zu schreiben, der würde das curioseste Buch unseres Jahrhunderts zu Stande bringen.

Die Natur pflanzte den Geschlechtstrieb in den Menschen zu dem Zwecke seiner Vermehrung: daß er den Act des Beischlafes zu jeder Zeit nach freiem Willen und ungehindert durch äußere Einflüsse vollziehen kann, daß er nicht, wie das Thier, an gewisse Jahreszeiten gebunden ist, in welchen er, wie dieses, in dem erwachten Geschlechtstriebe sich Befriedigung verschaffen darf, ist einer der großen Vorzüge, welche der Mensch als Herr der Schöpfung besitzt.

Daß der Mensch die freie Bestimmung über seine Handlungsweise nicht immer zu seinem Besten anwendet, daß er sich von seinen Leidenschaften hinreißen läßt, dürfen wir, um gegen uns selbst nicht zu strenge Richter zu sein, nicht allzusehr verdammen.

Allein gerade in Bezug auf die Geschlechtsliebe sollte der Mensch sich[329] am meisten beherrschen können, da sie das Größte und Edelste ist, das die Natur in ihn gepflanzt.

Die Natur schuf das Weib nicht, uns Liebe abzuzwingen, sondern abzuzaubern. Die Schöpfung bietet im Besitze des Weibes so hohe Fülle der Freude dar, daß nur der geistlose Barbar im Augenblicke des sinnlichen Genusses den Triumph der Liebe fühlt.

Die beiden Hälften des Menschengeschlechtes nehmen in Bezug auf die Geschlechtsliebe ganz verschiedene Standpunkte ein.

Während der Mann bei allen Völkern derjenige ist, welcher durch sein Schaffen und Wirken die bestimmende Kraft sowohl im Staate, wie in der Familie bildet, ist das Weib, durch die ihm von der Natur anvertraute hohe Mission, Kinder zu gebären und Kinder zu erziehen, auf einen ganz andern Standpunkt gestellt. Das Weib verhält sich leidend, wo der Mann handelnd auftritt; das Weib entsagt da, wo der Mann genießt.

Das eben Gesagte findet eine treffende Illustration in der Verrichtung des Geschlechtsactes selbst. Der selbstständige, handelnde Mann schwelgt in den Reizen des Weibes; das leidende, entsagende Weib findet den größeren Genuß in den Wonnen, welche es dem Geliebten bereitet.

In dem ersten einfachen Naturzustande des Menschengeschlechtes war die Vermischung der Geschlechter einzig und allein das Resultat eines natürlichen Triebes und das Weib ergab sich dem Manne, ohne etwas anderes darin zu erblicken, als einen natürlichen Act, der durch kein Verbot gehindert wurde.

So lange das Weib nur den Regungen seines Herzens oder der Sinnlichkeit folgte, war demselben kein Vorwurf zu machen aus der Befriedigung seines Geschlechtstriebes und so lange gab es natürlich auch keine Prostitution.

Ehe wir auf die Entstehung derselben übergehen, wird es am Platze sein, über die Bedeutung dieses Wortes zu sprechen.

Das Wort Prostitution kommt aus dem Lateinischen und ist eigentlich in dieser Sprache aus mehreren Worten zusammengesetzt, für welche sich in unserer Muttersprache kein Ausdruck findet, der die Bedeutung des Ganzen genau wiedergiebt.

Wir können das Wort Prostitution nur etwa so übersetzen, daß es soviel heißt, als: Sich in Kauf setzen oder bereit stehen.

Durch die Gewohnheit ist man dahin gekommen, das Wort in[330] seiner Bedeutung nur da anzuwenden, wo es sich um den Verkauf des Körpers handelt, wo es darauf abgesehen ist, das schändliche Gewerbe öffentlicher Frauenzimmer zu bezeichnen, welche gegen Entgeld ihre Reize Jedem feil bieten, der es verlangt.

Wie wir schon oben sagten, gab es so lange keine Prostitution, als das Weib den Regungen seines Herzens oder der Sittlichkeit folgte, ohne vom Manne mehr zu verlangen, als die Stillung seiner Triebe. Erst in dem Momente, als das Weib Bezahlung forderte für das Vergnügen, das es dem Manne bereitet, als es, auch ohne das Bedürfniß zu empfinden, sich dem Manne aus Gewinnsucht preisgab, fing es an, sein Geschlecht zu entwürdigen, indem es seinen Körper zum Gegenstande eines Geschäftes machte.

Die Prostitution wird in zwei Klassen eingetheilt. Erstens in die normale Prostitution, bei welcher die Vermischung der Geschlechter auf naturgemäße Weise erfolgt, und zweitens in die anomale, bei welcher die Vermischung der Geschlechter in unnatürlicher Weise stattfindet. Diese letztere zerfällt wieder a) in die Päderastie (zwischen Männern), und b) in die Tribadie (zwischen Frauenspersonen). Außerhalb dieser Eintheilung steht das widernatürlichste aller Laster: die Sodomie oder die Thierliebe, welches beiden Geschlechtern gemeinsam ist.

Die Prostitution tritt uns im Alterthum unter drei Hauptformen entgegen, nämlich als gastliche, religiöse und legale Prostitution.

Alle diese Formen entsprechen der verschiedenen Lebensepochen der Völker.

Betrachten wir zuerst die Epoche der gastlichen Prostitution, die bei allen Völkern des Alterthumes in großem Ansehen stand und noch jetzt bei einzelnen Nationen geübt wird.

Als der Mensch noch einsam in den Wäldern lebte, von Feldfrüchten sich nährend, oder von den Erträgnissen der Jagd, als er tage- und wochenlang in Bergen und Thälern umherstreifte, ohne seines Gleichen zu finden, da war es wohl natürlich, daß er, ermüdet von seinem Umherstreifen, geplagt von Hunger und Durst, mit wahrhafter Freude den aufwirbelnden Rauch begrüßte, der auf einsamer Steppe ihm schon in der Ferne das Dasein einer menschlichen Hütte anzeigte. Mit sehnsuchtsvollem Verlangen strebte er darnach, den Ort zu erreichen, an welchem es ihm vielleicht nach Monaten wieder vergönnt sein würde, mit Seinesgleichen Worte und Gefühlsäußerungen auszutauschen.[331]

So erfreut der einsame Wanderer war, wenn er eine einsame Hütte fand, in der er sein Nachtlager aufschlagen konnte, so herzlich wurde er als Gast empfangen, wo er unvermuthet eintraf, und seine Ankunft wurde stets als eine gute Vorbedeutung angesehen, sein Eintritt war gesegnet und glückverheißend.

Zur Vergeltung des glücklichen Einflusses, den der Fremdling mit auf das Haus üben sollte, dessen Dach ihn als Gast barg, wurde er allen Hausgenossen ein Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, und so natürlich man es fand, den ermüdeten Fremdling mit Speise und Trank zu stärken, so natürlich fand es auch der Hausherr, wenn er seinem Gaste das Lager seiner Frau und diese selbst ihm anbot.

Und ohne zu erröthen, ergab sich das Weib willig dem Fremdlinge und suchte sich demselben so angenehm als möglich zu machen, theils um ihre Eitelkeit zu befriedigen, theils auch beim Abschiede auf ein reichliches Geschenk hoffend, abgesehen davon, daß auch der Reiz der Abwechselung das seinige dazu beitrug, daß sie dem Gaste sich von ihrer liebenswürdigsten Seite zeigte.

Noch ein anderer Beweggrund veranlaßte den Manne damaliger Zeit, seine Weiber und Töchter jedem Fremden zum Beischlaf anzubieten. Die Hoffnung auf eine edle und ruhmreiche Nachkommenschaft war es, welche ihn zu dieser Handlungsweise bestimmte, denn nach den damaligen Begriffen stiegen nicht selten die Götter in Menschengestalt zur Erde herab und vermischten sich mit den Töchtern des Menschengeschlechtes. Die Ueberlieferungen der alten Mythologien geben uns viele Beispiele hierfür, und mit Recht darf man annehmen, daß der Glaube an das Menschwerden der Götter viel zur Verbreitung der gastlichen Prostitution beigetragen hat.

In welcher Form und in welchem Umfange die gastliche Prostitution bei einigen Völkern noch jetzt geübt wird, werden wir in einem späteren Kapitel erörtern.

Betrachten wir die zweite Form, die religiöse Prostitution näher so finden wir, daß sie, durch schlaue Priester erfunden und eingeführt, dieser Kaste des Menschengeschlechtes besonders dazu dienen mußte, ihren Lüsten fröhnen zu können.

Wir haben schon an anderer Stelle dieser Art der Prostitution Erwahnung gethan und können hier also füglich über sie weggehen.

Was nun schließlich die legale Prostitution betrifft, so versieht[332] man darunter die öffentliche Preisgebung, welche nach Gesetzen aus den beiden ersteren hervor, und in die Gesetze und Sitten der Völker überging. Sie wirkte auf die menschliche Gesellschaft weit nachtheiliger als die religiöse, da sie vor den Augen der Oeffentlichkeit vollzogen wurde und zügellose Orgien feierte, welche zur allgemeinen Demoralisation unendlich viel beitrugen.

Im Allgemeinen kann man die Verschiedenartigkeit der Völker, soweit sich dieselbe auf den Bildungsgrad und Culturstand bezieht, nach der Behandlung schätzen, welche sie ihren Weibern zu Theil werden lassen, und welche Begriffe sie von dem Werthe einer unberührten Jungfrau haben.

Der slavische Orientale fordert mit großer Strenge die Erstlinge der Liebe und bewahrt aus seiner Brautnacht das blutgefleckte Betttuch als eine heilige Urkunde. Der mongolische Abkömmling bietet Weiber und Mädchen fremder Umarmung dar und stößt oft seine Braut mit der größten Verachtung von sich, wenn er bei der ersten Umarmung einen noch ungebahnten Weg findet. Der Indier wirft sich vor seiner Gottheit nieder und dankt ihr in der tiefsten Anbetung für die ehrenvolle Wohlthat, seine Schöne entjungfert zu haben.

So wirken Sitten und Gewohnheiten verschiedenartig auf den Menschen und was in dem einen Lande für die höchste Tugend gilt, wird in dem andern als Laster betrachtet.

Es ist schwer, alle Erscheinungen, Thatsachen und Begriffe, die sich auf die Geschlechtsliebe und auf die damit innig verbundenen Nebenumstände beziehen, richtig zu erklären. Man müßte die genaueste Länderkenntniß und die Kunst besitzen, die kleinsten Umstände, ihre Organisation und ihr Klima und die Verfassung und Lebensart aller Nationen aufzufinden, um ein richtiges Urtheil fällen zu können. Theils finden sich aber in den Nachrichten über die entferntesten Länder so viele Lücken, theils sind auch die Urtheile der Reisenden widersprechend und aus falschen Gesichtspunkten aufgefaßt, sodaß man ihnen gewöhnlich kein Gewicht beilegen kann.

So wollen z.B. viele Reisebeschreiber das Darbieten der Weiber und Töchter bei den wilden Völkern als einen Zug der Gastfreundschaft betrachtet wissen und sehen die damit verübte Prostitution als eine gastliche an, welcher wir vorhin erwähnten.

Gastfreundschaft ist zwar eine der größten Tugenden wilder Völkerschaften,[333] aber was das Preisgeben ihrer Weiber und Töchter anbetrifft, so war dieselbe ursprünglich wohl nicht mit ihr verschwistert.

Als eine gastliche Prostitution können wir diesen Zug aber ebenfalls nicht betrachten, da derselben alle die Bedingungen fehlen, welche sie zu einer solchen gestalten.

Die gastliche Prostitution wurde bei den alten Völkern als eine Aufmerksamkeit gegen den seltenen Gast geübt, von dem man annahm, daß er des Umganges mit dem weiblichen Geschlechte seit längerer Zeit habe entbehren müssen. Die freundliche Aufnahme, welche die Wilden den Europäern bereiteten, mußte erst durch Geschenke hervorgerufen werden. Die Sehnsucht nach dem Besitze bisher ungekannter Gegenstände machte die Begierde der Wilden rege und der Matrosenliebe gelang es, für ihre Geschenke höhere Preise, den Genuß ihrer Weiber zu erzielen.

So entsprang der Gebrauch, welchen man auf Rechnung der Gastfreundschaft setzt, lediglich der Gewinnsucht, und um diese zu befriedigen, giebt der Wilde Alles hin.

So viel steht fest, daß alle Völker, so lange sie nicht von fremden Lastern angesteckt wurden, in einem mehr oder weniger hohem Grade der Unschuld lebten und daß gewöhnlich die Ausartung in Bezug auf den Geschlechtsgenuß von solchen Völkern ausging, welche eine höhere Stufe in der Cultur einnahmen.

Einen andern Grund des Darbietens ihrer Weiber an Fremde findet man auch in einem gewissen religiösen Abscheu gegen den periodischen Blutverlust der Weiber, und in der Kraftlosigkeit des männlichen Geschlechtes, namentlich in heißeren Zonen. Ein Beispiel hierfür erzählt de Zarate in seiner Geschichte Peru's von den Südafrikanern. Als die Weiber derselben die Kraft der Europäer kennen lernten, wurden sie so unbändig, daß sich dreihundert Weiber des Inka Atabalipa den Siegern auf dem Schlachtfelde preisgaben, denen sie später bei der Ermordung ihrer Landsleute die beste Hilfe leisteten.

Die Geschichte der Menschheit lehrt bei jedem Volke, daß der glückliche Zustand der Sitteneinfalt nur so lange dauerte, als die Leidenschaften schlummerten, unter welchen die Wollust obenan steht. Aus Nachfolgendem werden wir ersehen, wie die Natur die Beleidigung ihrer heiligen Gesetze langsam aber fürchterlich rächte.[334]

Quelle:
Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung.] Dritte Abtheilung. In: Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung] S. 11–144; Dritte Abtheilung S. 1–208. – Dresden (1876), S. 319-335.
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