Licht und Finsterniß

[369] Unter den Gegensätzen, welche das irdische Leben uns bietet und aus denen sich alle Verhältnisse und Beziehungen des Daseins entwickeln, ist der von Licht und Finsterniß einer der bedeutendsten und hervorragendsten. Licht und Finsterniß ist ein Contrast, welchen wir nicht blos in Hinsicht auf die physikalischen Erscheinungen der Erde bemerken, sondern er macht sich ebenso auch auf geistiges Gebiete geltend und ist hier von eben solcher Schärfe, von eben solcher Bedeutung wie in dem Reiche der äußeren Erscheinungen.

»Gott schied Licht und Finsterniß,« sagt die Bibel, »da ward aus Abend und Morgen der erste Tag,« aber wie dieses Scheiden von Licht und Finsterniß kein nur einmaliges, kein vollständiges und absolutes war, so ist auch heute der erste Tag der Erdenwelt noch nicht vergangen und wir stehen noch immer am Anfange der großen Woche, auf welche der ewige Sabbath folgt.

Licht und Finsterniß, sie bestehen nicht mit wahrnehmbaren Grenzen neben einander, sondern sie gehen nach und nach, allmälig, in einander über, werden durch eine vermittelnde und wohlthuende Dämmerung mit einander verbunden. Es ist mit beiden wie mit jedem der großen kosmischen und tellurischen Gegensätze: sie sind nur scheinbare Gegensätze, sind nur verschiedene Erscheinungen, verschiedene Offenbarungen eines und desselben Gesetzes, einer und derselben Kraft, eines und desselben Zustandes.

Es giebt keine absolute Finsterniß, sondern der Strahl des himmlischen Lichtes dringt in jedem Raum, in jede Tiefe, welche sich vor dem[369] schwachen Auge des Menschen in Dunkel und Undurchdringlichkeit hüllt. Und ebenso ist es auch auf den geistigen Gebiete: auch hier giebt es kein wirkliches Dunkel, keine vollständige Abwesenheit alles wirklichen Lichtes, sondern in der verwahrlosesten Seele und in dem Hirne des Idioten ebenso, wie in der tiefsten socialen Barbarei glimmt ein Funken des Gefühles, des denkenden Geistes, offenbart sich eine Möglichkeit der Versittlichung.

Nur in der physikalischen Natur giebt es Tag und Nacht, im Leben des Menschen, in demjenigen der Völker aber nicht. Der Mensch wird geboren; seine Seele ist eine unbeschriebene tabula rasa, eine Kraft, ein geistiges Wesen, welches erst zum Selbstbewußtsein kommen muß, um nach dem Lichte ringen zu können. Von Tag zu Tag aber steigt die Sonne der Erkenntniß höher; für sie giebt es kein Sinken, kein Abendroth, keinen Untergang, sondern mit dem letzten Augenblicke des Lebens hat auch sie die höchste Staffel erreicht und steigt hinüber in eine andere Welt, um dort dieselbe emporstrebende Bahn fortzusetzen. – Und die Völker werden geboren wie die Einzelmenschen: auch ihre Entwickelung wird eine immer höhere und vollkommenere, und wenn sie ihre höchste Stufe erreicht hat, so sinkt sie nicht wieder abwärts, sondern geht auf andere Nationen über, um von ihnen zu immer größerer Höhe getragen zu werden.

So kennt die Liebe auch nicht den Unterschied von Tag und Nacht, und wenn hier zwischen Licht und Finsterniß unterschieden wird, so gilt genau das eben jetzt Gesagte. Es ist »menschlich geredet«, die Liebe mit dem Lichte, den Egoismuß, den Haß, die Rache etc. aber mit der Finsterniß zu vergleichen, denn die sogenannten Negationen der Liebe sind auch Liebe, nur in anderer Offenbarung, in anderer Richtung, in einem anderen moralisch tieferen Grade; und wie dies im Leben des Individuums, so auch im Leben der Nationen, der ganzen Menschheit. In diesem Sinne ist es höchst berechtigt, wenn Christus, der größte der Philosophen, sagt: »Es muß ja Aergerniß kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen es kommt« – es kann nicht Jeder die gleiche Stufe der Liebe also der sittlichen Vollkommenheit erstiegen haben, aber zu beklagen ist Derjenige, welcher den Anfang dieser Vervollkommnung noch nicht überschritten hat.

Allerdings sollte, wenn wir Christus im vorhergehenden Abschnitte den Punkt nannten, von welchem aus die Strahlen der Liebe hinausgehen in alle Länder, in alle Völker, damit nicht behauptet werde, daß mit Christo die absolute Liebe in die Welt gekommen, daß in seiner Lehre die alleinige[370] Möglichkeit der Erkenntniß der Liebe gegeben sei; aber mit seiner Friedensverkündigung begann der Tag zu grauen, dem keine Nacht folgen wird; der Tag, dessen Helle sich immer steigert, vor dem die Finsterniß immer weiter zurückweicht und eine glückverheißende Morgendämmerung ihre segensvollen Kreise immer weiter wirft. Und diese Kreise beziehen sich nicht blos auf die örtlichen, sondern auch auf die zeitlichen Verhältnisse. Immer weiter hinaus in die Länder und Zeiten treten die Rechte des Menschen in ihre Berücksichtigung; der Mensch ist nicht mehr eine Waare, ein Mittel für die Zwecke Anderer, sondern der Inhaber heiliger Berechtigung, und die Anerkennung dieser Berechtigung ist das große Werk der Humanität, als der schönsten, der besten, der unverfälschesten Offenbarung der Liebe.

Predigt Liebe so viel, so oft und so weit Ihr wollt nach Euren Dogmen, Farben und Formen, Ihr werdet doch nur dem geistigen Dunkel in die Hände arbeiten; aber widmet Euch mit Wort und That dem großen Werke der Humanisirung, so seid Ihr die echten Jünger und Priester der Liebe.

Diese Humanisirung hat sich je länger desto mehr als ununterdrückbar geltend gemacht, und selbst in den Verhältnissen, in denen die Liebe, die Hingebung eine bezahlbare Waare ist, trat mit der Zeit eine immer größere Verfeinerung, eine größere Benachsichtigung, eine größere Berücksichtigung des menschlich Guten neben dem moralisch Verderbten hervor.

Wir erinnern hierbei an die galanten Verhältnisse des Mittelalters. Der mit der Religionsschwärmerei vermischte Geist des Ritterwesens erzeugte die Troubadours, diese so genannten Dichter, welche mit Pfauenfedern geschmückt, sich oft an den Höfen der Großen in poetische Wettstreite einließen, und die bald in Ritterromanen die Thaten tapferer Ritter besangen, bald in kleineren Liedern ihre eigenen Empfindungen, die ihnen die Reize des schönen Geschlechtes einflößten, schilderten. Beide Gattungen hatten aber immer die lebhafteste Schilderung des weiblichen Geschlechtes mit einander gemein, und ihre Gesänge athmeten nur gar zu oft südliche Ueppigkeit und naive Begierde. Für die Geschichte der Liebe im Mittelalter sind die Troubadours höchst wichtig.

Diesen Troubadours besonders verdankte das Mittelalter die berühmten »Gerichtshöfe der Liebe«. Diese Gerichtshöfe hatten nicht blos Präsidenten, welche fast immer Könige, Fürsten und berühmte[371] Prinzessinnen waren, sondern sie waren überhaupt wie die ersten Parlamente der Nation organisirt. Ihrer ursprünglichen Bestimmung nach sollten sie eigentlich nur über die Proben der Liebe sprechen, die sich Liebende einander auferlegt hatten. Aber ihre Gerichtsbarkeit erweiterte sich allmälig so weit, daß sie über die Rechte der Männer und Weiber entschieden, neue Gewohnheiten einführten, und andere als Mißbräuche abschafften; insbesondere aber beschäftigten sie sich damit, die Natur und das Wesen der Liebe, die Vollkommenheiten und Gebrechen der Schönen, die Rechte, Verbindlichkeiten und Aufopferungen der Liebenden mit einer Spitzfindigkeit und Feinheit zu untersuchen, die selbst den geübtesten Dialektikern Ehre gemacht hätte. Als Beispiel einer solchen Untersuchung kann der Streit angeführt werden, der darüber entstand: ob ein eifersüchtiger Liebhaber, der durch den geringsten Anlaß beunruhigt wird, oder ein zuversichtlicher, der gar kein Mißtrauen in seine Geliebte setzt, eine wärmere Liebe gegen diese hege? Eine Nachahmung von diesen Liebeshöfen war die von Richelieu errichtete Akademie der Liebe, deren lächerliche Beschäftigungen indeß bald aufhörten.

Eine ähnliche Nachäffung dieser Liebeshöfe war der Orden der verliebten Leidenschaft.

Die Ritter und Knaben, Frauen und Jungfrauen, die sich zu diesem Orden vereinigten, erhoben die Liebe zu ihrer Gottheit, und die Pflichten und den Dienst der Liebe zu einem wirklichen Gottesdienst. Die Ordensbrüder und Ordensschwestern suchten einander in den Proben ihres Eifers für die Gottheit, die sie verehrten, und besonders in den Proben der Standhaftigkeit zu übertreffen, womit sie die Beschwerlichkeiten der Witterung und Jahreszeiten ertrugen. Männer und Weiber machten aus Sommer Winter und umgekehrt. Im Sommer trugen sie die wärmsten Kleider, die dicksten Pelze und heizten ihre Zimmer. Im Winter hingegen hüllten sie sich in die dünnsten Gewänder, schliefen in den leichtesten Decken, bekränzten ihre Kamine mit Laubwerk und Blumen, und hielten es für eine Schande, bei der strengsten Kälte Feuer anmachen zu lassen, und sich daran zu wärmen.

Wenn ein Ordensbruder eine verheirathete Ordensschwester besuchte, so entfernte sich der Mann augenblicklich und kehrte nicht eher in sein Haus zurück, als bis der Ordensbruder wieder weggegangen war, woraus eine Gemeinschaft der Weiber entstand. Diese Schwärmer kamen vor[372] Kälte um und starben in ihren Ordenspflichten als wahre Märtyrer der Liebe. Auf diese Art war bald die ganze Sekte verschwunden.

Die Aehnlichkeit dieser Feste mit den unzüchtigen Festen der Alten leuchtet ein. In dieser Kategorie gehört der sogenannte verliebte Hof, der gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts ebenfalls als Nachahmung der Liebeshöfe entstand und von Kammer- und Domherren, vornehmen Damen, Doctoren, Advokaten u.s.w. gebildet wurde.

An diesem verliebten Hofe redete man von nichts als von Tugenden, Eigenschaften und Liebenswürdigkeiten der Schönen. Ein Jeder hatte eine unumschränkte Gebieterin seines Herzens und seiner Gedanken. Diese erhob er in den übertriebensten Ausdrücken, wenn er sie auch nicht einmal gesehen, sondern nur von ihr gehört hatte; dieser widmete er sein Herz und seine Dienste; ihr schwur er ewige Treue; ihr klagte er seine unerträglichen Leiden. Und bei allen diesen platonischen Schwärmereien waren die Liebenden nie einander untreuer, und begehrten nie mit heftigeren Trieben nach dem physischen Genuß der Liebe, als zu eben dieser Zeit. Man begleitete diese mündlichen Betheuerungen mit unaufhörlichen Verbeugungen, Niederfallen auf die Kniee und selbst Niederwerfen zur Erde und schloß endlich diesen lächerlichen Pomp von Ceremonieen mit den albernsten Spielen.

Während man diesen lächerlichen Cultus trieb, erlaubten sich die Ritter die schmutzigsten Anspielungen und zweideutigsten Scherze. In den Gedichten der Troubadours wechselten die größten Unanständigkeiten mit den bigottesten Andächteleien ab und bildeten so einen lächerlichen Contrast zu den Lobeserhebungen und Schmeicheleien, mit welchen man das weibliche Geschlecht förmlich überschüttete.

Zur gerühmten Gastfreundschaft der damaligen Zeit gehörte es, daß die Ritter und Burgfrauen den bei ihnen einkehrenden Fremden ein hübsches Mädchen zum Beilager für die Nacht anboten, welches zu beschaffen nicht selten Gewaltmittel angewandt wurden. In den Kammerfrauen und Zofen ihrer rechtmäßigen Gemahlinnen erblickten die vornehmen Herren nichts weiter, als die Opfer ihrer sinnlichen Begierden, und die hübschesten Jungfrauen aus der Zahl ihrer Unterthanen fielen ihren unmäßigen Lüsten zum Opfer. Nie gingen sie auf die Jagd, ohne eine dieser gefälligen Schönen in ihrer Mitte zu haben, wenn sie nicht durch List und Tücke schon im Voraus dafür gesorgt hatten, daß sie in den einsamen[373] Jagdschlössern irgend ein hübsches Mädchen vorfanden, welches von speichelleckerischen Dienern auf Bestellung an Ort und Stelle geschafft war, um der Ehre theilhaftig zu werden, von dem »gnädigen Herrn« entehrt zu werden.

Die in damaligen Zeit üblichen Turniere wurden mit Bällen und Schmausereien geschlossen, zu deren Schauplätzen man sich nicht schämte, die geheiligten Stätten der Klöster zu wählen, und wobei unter den schamlosesten Tänzen und bei wilder Schmauserei Jungfrauen entkränzt und nichtsahnende Ehemänner gekrönt wurden. Im wilden Taumel der aufgeregten Sinne wagten die tapferen Rittersleute das unmöglich Scheinende und die vornehmsten Damen waren die letzten, welche ihnen ihre Bitten um Erhörung abschlugen.

Zu Froissard's Zeiten herrschte die sonderbare Sitte, daß man die Bräute vor der Vermählung auf das Genaueste besichtigte, um durch den Augenschein zu erfahren, ob die Jungfrau auch fruchtbar und ohne Gebrechen sein.

Wahrscheinlich war dies die Nachahmung einer griechischen Sitte; denn als die Gesandten des griechischen Kaisers um die Tochter des Grafen von Tripoli warben, erkundigten sie sich genau nach der Beschaffenheit der verborgenen Theile ihres Körpers.

So schrecklich das für unsere Zeiten klingt, so bemerken wir trotzdem in diesen Verhältnissen einen nicht zu verkennenden Fortschritt. Jene seine Galanterie, jene chevalereske Umgangsform, durch welche sich die Zeiten der Minnesänger und Liebeshöfe auszeichnen, zeigt uns die geschlechtliche Liebe in ihrer Durchgeistigung von einer seinen Ritterlichkeit und rücksichtsvollen Höflichkeit, welche ihr einen großen Theil ihrer gewöhnlichen gehässigen Erscheinungen nehmen.

Und treten wir aus diesen zarten Verhältnissen heraus in das sociale und politische Leben, so sehen wir, daß um diese Zeit auch hier die Finsterniß immer mehr zurückweicht und einer Milderung aller öffentlichen Zustände Platz macht. Wir werden das im Weiteren verfolgen.[374]

Quelle:
Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung.] Dritte Abtheilung. In: Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung] S. 11–144; Dritte Abtheilung S. 1–208. – Dresden (1876), S. 369-375.
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