Wolkenschatten

[375] In unserer von atmosphärischer Feuchtigkeit mehr oder weniger geschwängerten Hemisphäre giebt es wohl selten einen völlig ungetrübten Himmel, ein völlig wolkenfreies Firmament. Die Dünste der Erde werden von den Strahlen der Sonne, von der Kraft der Wärme aufgelöst und emporgetragen, um sich, oben gesammelt, wieder herabzugießen auf die durstige Erde. Wenn Lenau sagt:


»Trägt Natur auf allen Wegen

Einen großen, ew'gen Schmerz,

Den sie mir als Muttersegen

Heimlich strömet in das Herz?


O, dann ist es keine Lüge,

Daß im Schooß der Wellennacht

In verborgener Genüge

Ein Geschlecht von Menschen wacht.


Dort auch darf der Freund nicht fehlen,

Wie am hellen Sonnentag,

Dem Natur ihr Leid erzählen,

Der mit ihr sich freuen mag.


Doch, geheim ist seine Stelle

Und Geheimniß, was er fühlt,

Dem die Thränen an der Quelle

Schon das Meer von dannen spült,«[375]


so ist dieses Leid doch nicht blos an die Tropfen des Meeres gebunden, sondern die vom Firmamente fallende, vom Himmel geweinte Feuchtigkeit ist noch mehr als diese das Symbol des Schmerzes, welcher »unter der Sonne wohnt«. Und wenn Wolken über das Leben der Völker gehen, so giebt es Leid und Klage, Haß und Unfrieden und die Liebe verhüllt ihr weinendes Angesicht.

Solche Wolken hat es gegeben, so lange die Erde steht, zu allen Zeiten und allüberall, und sogar über das eigentliche Reicht der Liebe haben sie ihre Schatten geworfen um ihre Wetter entladen. Es sei hier nur an die Mission erinnert.

Kein Mensch, welcher durch treue und sorgfältige Uebung seines Denkvermögens zu einer festen und sichern Weltanschauung gelangt ist, wird dem Dogma von einem alleinseligmachenden Erlauben seine Zustimmung geben. Es führen der Wege viele nach Rom, und wie keine Blume die alleinduftende, kein Stern der alleinleuchtende ist, so giebt es auch keine alleinrichtige Anbetungsform.

Wenn ein Mann es unternähme, mir zu behaupten, der Beruf, welchem ich seit meiner Jugendzeit obliege, welcher mich ernährt und meinen Bedürfnissen volle Genüge giebt, sei ein verfehlter und nur durch den seinigen könne ich meine Kräfte verwerthen, so würde ich diese Behauptung sehr bezweifeln, wenn er es aber gar wagte zu sagen, es gäbe gar keinen ernährenden Beruf weiter als den seinigen, so würde ich ihn auslachen.

Was nun antworte ich einem Manne, welcher mit den Ansprüchen der Untrüglichkeit vor mich hintritt und mir die Behauptung in das Gesicht schleudert, seine Ansicht über Gott und Göttliches sei die allein richtige, und wenn ich nicht zu ihr übergehe, werde ich einer zeitlichen und ewigen Verdammniß anheimfallen? Erklärt er mich mit dieser Behauptung nicht für einen Menschen, welcher sich irrigen Ansichten hingiebt, weil es ihm an dem nöthigen Denkvermögen mangelt? Liegt in seinen Worten nicht eine Beleidigung, die einen jeden gebildeten Menschen auf das Tiefste verletzen muß?

Wahr ist es, daß die Bibel von Christo erzählt, er habe gesagt: »Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker.« Aber, wenn er diese Worte wirklich gesprochen hat, hat man sie auch richtig verstanden? Hat[376] man auch wirklich nichts weiter, nichts Anderes als einzig und allein nur seine Lehre hinausgetragen in die Welt? Und wenn man dies gethan hätte, wäre da wohl von einer Propaganda, von einer Mission, von einer Bekehrung die Rede gewesen oder hätte dann überhaupt von einer solchen die Rede sein können?

Es giebt wohl selten eine Macht von der Größe und Unbezwinglichkeit derjenigen, welche die Idee ausübte. Aber diese Idee, obgleich sie an einen Träger gebunden zu sein pflegt, muß sich frei entwickeln, darf nicht an menschliche Satzungen gekettet sein, soll nicht aufgedrungen, aufgezwungen werden. »Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Brausen wohl, aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt,« so ist es mit dem Geiste, mit der Liebe, mit dem Hasse. Geistige und gar geistliche Güter können nicht aufgezwungen werden, sie wachsen von selbst an dem Baume des Lebens, und von allen Richtungen dürfen sich die Bedürftigen nahen, um diejenigen Früchte zu brechen, welche für ihre Bedürfnisse erforderlich sind.

Man schüttele ja nicht mit dem Kopfe oder breche in eine zornige Philippika aus, wenn wir der Heidenbekehrung, also unserer vielgerühmten Mission nicht die Theilnahme, nicht die Anerkennung zuwenden, welche sie sich gewöhnt hat zu beanspruchen. Wir sehen uns mit Sehnsucht nach dem Segen um, den sie mit sich gebracht hat.

Die nach Außen gerichtete Mission ist, streng genommen, eine Beleidigung des Völkerrechtes, da sie den Andersgläubigen nicht nur fast für unzurechnungsfähig erklärt, sondern sich zu allen Zeiten und noch heute solcher Mittel bedient hat und auch noch bedient, welche der Zustimmung des unparteiisch Denkenden sich unmöglich erfreuen können. Und ebenso hat sie zu allen Zeiten der erobernden Politik als ein Mittel zum Zwecke gedient, und unter dem Vorgeben, das Reich Gottes auszubreiten und die sogenannten »armen« (?) Heiden für die ewige Seligkeit (?) zu gewinnen, hat das Schwert unter den Völkern gefressen, sodaß ganze Nationen von dem Schauplatze der Geschichte verschwunden sind. Das ist die Politik der Mission.

Und betrachten wir sie von ihrer socialen, von ihrer culturgeschichtlichen Seite, so finden wir, daß ihre Wirkung vorzugsweise eine nivellirende ist: »Es soll en Hirt und eine Heerde werden!« Ob dieses Ziel ein für die Menschheit segensvolles ist, lassen wir dahingestellt sein, nur scheint[377] es uns, daß ein jedes Volk die Berechtigung zu einer eigenartigen, von seinen individuellen Gaben und seinen speciellen Verhältnissen bedingten Entwickelung beanspruchen dürfe, und die Berechtigung wirft die Mission dadurch über den Haufen, daß sie das Eigenartige zerstört, und Alle unter dem beglückenden Vereine der »himmlischen Gemeinde« versammelt. Es verschwindet eine Culturform nach der andern von der Erde, und der Menschenfreund steht vor Ruinen, deren Einsturz er beklagen muß.

Die nach Innen gerichtete Mission scheint eine größere Berechtigung zu haben. Wir bekennen uns zum Christenthume und dürfen es also auch nur als folgerichtig ansehen, wenn die »Diener vom Worte«, die »Vertreter Gottes auf Erden« mit allem Eifer darnach trachten und mit aller Mühe, womöglich unter Hülfe einer kirchlichen Disciplin, darnach ringen, dem Christenthume immer festeren Halt zu geben. Nur handelt es sich hier um eine rechte Würdigung der Mittel, durch welche dieser Zweck verfolgt wird. Die Christenverfolgungen unter den römischen Kaisern haben uns an unserem eigenen Leibe gezeigt, welches aus den Maßregeln einer hochmüthigen Unfehlbarkeit entspringen kann; und denken wir an die Judenverfolgungen des Mittelalters, an die Inquisition, so wollen uns die Haar zu Berge stehen über die Art und Weise, wie das Christenthum gegen sich selbst, gegen seine eigenen, und selbst gegen seine besten Glieder, gewüthet hat. Ein trauriges Bild solcher Zustände entrollt sich vor unseren Augen, wenn wir einen Blick auf die sogenannten »Geißelungen« werfen:

In Folge des Ausbruches der Syphilis entstanden auch die religiösen Sekten der Flagellanten (Geißler), in Deutschland Flegler genannt, welche zu Tausenden, sowohl Weiber als Männer, die Länder durchzogen, ihre nackten Schultern durch Geißelhiebe beständig zerfleischend und Gott um Rettung und Hilfe anflehend.

Bei allen Völkern und zu allen Zeiten zeigte sich die seltsame Neigung, seinen Mitmenschen mittelst eigner Werkzeuge körperlichen Schmerz zuzufügen. Aberglaube und Betrug, Selbsttäuschung und Schwärmerei, Brutalität und Grausamkeit, Lüsternheit und Wollust trugen zugleich großen Theil hieran.

Mit welchem Nachdrucke in den ersten Jahrhunderten unserer christlichen Zeitrechnung das Geißeln geübt wurde, geht daraus hervor, daß man durch Landesgesetze und Concilienbeschlüsse demselben Einhalt thun[378] mußte. Das Concillium zu Nicäa belegte alle Hausfrauen mit geistlichen Strafen, ja selbst mit siebenjährigem Ausschluß von der Kirchengemeinschaft, welche ihre Sclavinnen oder Mägde so stark geißeln würden, daß sie daran stärben. Bei den Franken und Burgundern war die Sache besonders mode; nicht nur gegen ihre Unterthanen verfuhren die regierenden Fürsten und Herren besonders hart, es wurden selbst edle Frauen von ihren Männern oder Vormündern gezüchtigt. Mehr als eine Dienerin, welche durch ihre größere Schönheit die Eifersucht ihrer Gebieterin gereizt, ward zu Tode gegeißelt.

Hinsichtlich des Körpertheiles, auf welchen man sie gab oder nahm, wurden zwischen der oberen und unteren Disciplin unterschieden; erstere geschah auf Schultern und Rücken, bisweilen auch auf Brust, Oberarm, Hals und Kopf, letztere wurde auf Lenden, Hüften und Schenkel gegeben.

Die untere Disciplin wurde vorzugsweise bei Frauen angewendet, da ihre schwächere Natur, wie man sagte, durch die obere Disciplin allzusehr angegriffen würde und die unteren Theile das ihnen zugedachte Loos besser auszuhalten geeignet wären.

Ob wirklich die Besorgniß um die Gesundheit ihrer Beichtkinder die Beichtiger veranlaßte, die weiblichen Mitglieder der ihnen anvertrauten Heerde auf die unteren Theile des Körpers zu züchtigen, oder ob die Sinnlichkeit und die Lüsternheit es ihnen dictirte, wollen wir hier ununter sucht lassen.

Ganze Kapitel könnte man mit Beispielen anfüllen, wie Männer und Frauen ein wahnsinniges Vergnügen daran fanden, ihre Körper mit Ruthenschlägen zu zerfleischen, und man mag wollen oder nicht, man ist zu der Annahme gezwungen, daß zu dem heiligen Wahnsinn sich wollüstige Begierden gesellten, welche theils durch das Geißeln selbst, theils durch den Anblick der entblößten Körperformen gestillt wurden.

In den Geißlervereinigungen der Provinzen befanden sich auch Frauen selbst von Stande und gutem Rufe. Um sich die Scham und die Verlegenheit bei der Entblößung ihrer Körper vor den Zuschauern zu ersparen, verhüllten sie sich, wie auch die großen Herren und die Geistlichen die Gesichter, wenn sie in Verrichtung ihrer Andacht die Straßen durchzogen.

Weiber und Mädchen liefern, mit Geißeln in der Hand, im bloßen[379] Hemde herum, und selbst die schönen Herzoginnen von Guise, Merceur, Aumale, Elboeuf u. A. zeigten sich der Bevölkerung halb nackt und gaben sich die Disciplin, um durch ihr Beispiel zur Nacheiferung aufzumuntern.

Die alten Chroniken haben uns Beispiele hinterlassen, welche an Raserei grenzten und alle Zuschauer mit Entsetzen erfüllten. Viele geißelten sich selbst in der Nacht, Andere täglich zwei Mal, während der Fastenzeit sogar drei und vier Mal.

Wenn die Tage kamen, wo nach bestehenden Statut der Superior allen seinen Untergebenen die Disciplin zu geben hatte, so waren dieselben für die Betreffenden wahre Freudenfeste. Mönche und Nonnen fielen auf die Kniee, entblößten ihre Körper in der schamlosesten Weise und boten dieselben der Geißel dar.

Aus Italien, Spanien und Frankreich liefert die geheime Sittengeschichte mehr als ein Beispiel, wie sich Clubs gebildet, worin Geschwister und Verwandte sich gegenseitig und wechselseitig geißelten. Es wurden Pfandspiele damit in Verbindung gebracht; wer verlor, gab ein Kleidungsstück ab und so ging es bei allen Einzelnen fort, bis zur letzten Hülle. So viele Stücke sich nun vorfanden, so viele Hiebe wurden ausgetheilt, dem Herrn stets durch eine Dame, der Dame durch seinen Herrn. Daß es nicht immer bei diesen, wenn auch unanständigen, doch im Ganzen schuldlosen Scenen blieb, kann man sich denken.

Den ersten Rang in der Geißlergeschichte nahmen, wie schon früher bemerkt, die Jesuiten ein. Keine geistliche Verbindung hat durch das Flaggellationssystem sowohl bei der männlichen als bei der weiblichen Jugend und bei erwachsenen Frauenzimmern der Sittlichkeit mehr geschadet, als sie, indem sie es als Verführungsmittel und zur Befriedigung brutaler Sinnlichkeit gebrauchten.

Schon in den ersten Perioden ihrer Wirksamkeit erfuhr man allerhand ärgerliche Anekdoten über die von ihnen errichteten Bußanstalten, und gewöhnlich war es mystische Lüsternheit und sinnliche Begehrlichkeit, welche sie zu den entehrendsten Acten des Vertrauensmißbrauches hinrissen.

Trotzdem später die Geißelung des weiblichen Geschlechtes nach der Beichte verboten wurde, so gebrauchte man dieselbe doch in den Gefängnissen der heiligen Inquisition als Mittel, das Schweigen zu brechen, und ohne Rücksicht auf Geschlecht und Stand wurden die[380] Armen auf das Schamloseste entblößt; auch bei der Folterung und bei dem Auto-da-Fé war dies der Fall.

Jesuiten und Dominikaner, welche sich als Beichtväter in jedem angesehenen Hause zu unentbehrlichen Hausfreunden zu machen wußten, führten Dinge aus, die uns unbegreiflich scheinen.

So wohnten sie beispielsweise den angeordneten Züchtigungen in Klöstern bei, in welche man widerspenstige oder leichtsinnige Frauen und verliebte Mädchen einzusperren pflegte, und zwar, auf einen vorher erhaltenen Wink, entweder sichtbar oder versteckt. Bei Damen, die besonders hübsch waren, leiteten sie die Execution selbst. Mit den Nonnen wußten sie sich stets auf guten Fuß zu setzen, sodaß sie von diesen nicht verrathen wurden; die betreffenden Mädchen und Frauen aber hüteten sich nach ihrer Befreiung wohl, der Welt ihre Demüthigung mitzutheilen.

Quelle:
Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung.] Dritte Abtheilung. In: Das Buch der Liebe. [Erste Abtheilung] S. 11–144; Dritte Abtheilung S. 1–208. – Dresden (1876), S. 375-381.
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