7.

[707] Da wo die letzten Häuser von San Franzisko hinaus in das Freie blicken, kamen zwei Männer langsam die Straße daher geritten. Ihre Pferde schienen von guter Raçe zu sein, obgleich sie fürchterlich abgetrieben aussahen und sich kaum noch von der Stelle bewegen konnten.

Auch die Reiter hatten ganz das Aeußere von Leuten, die eine geraume Zeit lang Nichts mit den Segnungen der Civilisation zu thun gehabt haben. Der Bart hing ihnen lang und wirr bis auf die Brust herab; die breitrandigen Jägerhüte, weit und formlos geworden, ließen ihre Krämpen bis tief in das Gesicht herunterschlappen; die ledernen Gewänder schienen aus vertrockneter, rissiger Baumrinde zusammengesetzt zu sein, und die ganze übrige Ausrüstung ließ auf fürchterliche Strapazen schließen, welche die Männer überstanden haben mochten.

»Endlich – grace à dieu!« athmete der Eine hochauf. »Da sind wir, Jean, und ich denke, daß die Noth nun Nichts mehr mit uns zu schaffen haben wird.«

Der Andre schüttelte fast trübselig den Kopf.

»Verzeiht, Capitain, daß ich nicht so zuversichtlich bin. Ich werde mich nur dann erst vollständig sicher fühlen, wenn ich auf einem festen Deck stehe, welches einige Meilen von hier da draußen auf dem Wasser schwimmt. Der Teufel soll mich holen, wenn der Colonel mit seinem Volke uns nicht jetzt noch an den Fersen hängt!«

»Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Wir haben ihn ja so in die Irre geführt, daß er glauben muß, wir haben uns nach dem Gebirgsübergange hinauf nach britisch Columbien geschlagen. Wir haben diesen ungeheuren Umweg jedenfalls nicht umsonst gemacht.«

»Ich will wünschen, daß Ihr Euch nicht irrt, aber ich traue diesem verteufelten Trappervolke nicht zehn Schritte weit und halte es für das Beste, uns möglichst bald an Bord eines Schiffes zu begeben, welches von diesem unglückseligen Lande nichts mehr wissen will.«

»Wird so schnell nicht gehen, Jean! Oder hast Du die Miß Admiral ganz und gar vergessen?«

»Die sorgt schon dafür, daß man sie nicht vergißt. Aber glaubt Ihr wirklich, daß sie von New-York nach San Franzisco gedampft ist, um hier zu bleiben? Die ist sicher schon längst wieder abgesegelt.«

»Oder auch nicht. Ich habe so meine Meinung darüber, die mir unterwegs gekommen ist und nicht wieder von mir lassen will.«

»Darf man sie hören, Capitain?«

»Warum nicht? Weißt Du, wo unser ›l'Horrible‹ jetzt steckt?«

»Natürlich. Wir haben uns in New-York ja genugsam nach ihm erkundigt.«

»Nun?«

»Er kreuzt in den Gewässern des westlichen Isthmus.«

»Richtig! Glaubst Du, daß wir uns allein nach ihm erkundigt haben?«

»Ah –« machte Jean, der die Gedanken seines Herrn zu begreifen begann.

»Verstehst Du mich? Sie hängt an dem Schiffe vielleicht noch mehr als ich selbst; ich würde meine linke Hand hingeben, wenn ich es wieder unter meine Füße bekommen könnte, und sie, – nun, Jean, warum ist sie nach San Franzisco gegangen?«

»Teufel, es ist ihr wahrhaftig so ein Coup zuzutrauen. Aber Geld gehört dazu, viel Geld!«

»Das hat sie.«

»Hm!« brummte der Diener zweifelnd. »Möchte wissen, woher!«

»Ich weiß es, Jean, ich weiß es sehr genau.« knirrschte Latour; »aber das soll ihr nicht geschenkt bleiben, wenn ich sie treffe. Vor allen Dingen aber ist es nöthig, uns wieder ein menschliches Aussehen zu geben.«

»Dazu gehört wieder Geld.«

»So viel muß werden, und zwar sofort. Schau da hinüber!«

Er deutete mit der Rechten nach einer Barracke, über deren niederen Dache ein Bret mit der Inschrift »Jonathan Livingstone, Horse-haggler« angebracht war.

»Ein Pferdehändler?« meinte Jean. »Wird für unsre halb verhungerten Thiere auch viel bieten!«

»Müssen eben zusehen!«

Sie lenkten ihre Pferde dem angegebenen Orte zu. Ein Mann, dem der Pferdejude auf tausend Schritte Entfernung anzusehen war, trat aus der Thür, als sie abstiegen.

»Zu wem wollt Ihr, Gentlemen?«

»Zu dem ehrenwerthen Master Livingstone, Sir.«

»Der bin ich selbst.«

»Ihr kauft Pferde?«

»Hm – ja – solche aber nicht,« antwortete er mit einem geringschätzigen, aber doch aufmerksamen Blicke auf die angebotene Waare.

»Well, dann god bye, Sir!«

Im Augenblicke saß Latour wieder auf und machte Miene, sich zu entfernen.

»Slow, Master, langsam, langsam; man wird sich die Thiere doch wohl einmal ansehen können!«

»Wenn Ihr ›solche‹ nicht kauft, so sind wir fertig. Ihr habt kein Greenhorn vor Euch!«[707]

»So so! Da steigt einmal wieder herunter! Hm, elend, ungeheuer elend. Ihr kommt wohl aus der Savanne?«

»Yes!«

»Kann kaum Etwas bieten; muß gewärtig sein, sie gehen mir noch drauf,« meinte er, die Thiere eingehend musternd. »Wie viel wollt Ihr haben?«

»Was bietet Ihr?«

»Für alle zwei?«

»Für beide!«

»Hm, dreißig Dollars, nicht mehr und auch nicht weniger.«

Sofort saß Latour wieder auf und ritt ohne eine Antwort davon.

»Stopp, Sir, wo wollt Ihr denn hin? Ich denke, Ihr wollt die Pferde verkaufen!«

»Ja, aber nicht an Euch.«

»So kommt doch zurück! Ich gebe vierzig.«

»Sechzig!«

»Fünfundvierzig.«

»Sechzig!«

»Fünfzig!«

»Sechzig!«

»Unmöglich! Fünfundfünfzig und keinen Cent mehr.«

»Sechzig und keinen Cent weniger. Adieu!«

»Sechzig? Nein, fällt mir gar nicht ein – – doch halt, so wartet doch nur, he, bleibt doch da, Ihr sollt sie haben, die Sechzig, obgleich das Viehzeug so ein Geld gar nicht werth ist!«

Lächelnd kehrte Latour zurück und stieg wieder vom Pferde.

»Da nehmt sie, und zwar mit Zaum und Zeug!«

»Kommt herein, Master; der Andre mag sie einstweilen halten.«

Der Händler führte ihn in einen kleinen Verschlag, welcher durch einen alten, kattunenen Vorhang in zwei Theile geschieden war. Er verschwand hinter dem Letzteren und trat dann mit dem Gelde wieder hervor.

»Hier sind die sechzig Dollars. Ihr habt ein Sündengeld bekommen!«

»Pah, macht Euch nicht lächerlich! Doch – hm – Ihr seid hier in der City bekannt?«

»Besser als mancher Andre.«

»So könnt Ihr mir wohl eine Auskunft geben –«

»Nach einem Boardinghouse wohl?«

»Nein, nach einem coulanten Bank- oder Lombardgeschäft.«

»Lombard – hm, was für einen Antrag habt Ihr dort?«

»Ist Nebensache!«

»Ist Hauptsache, Sir, wenn Ihr richtige Auskunft wünscht.«

»Will eine Deposite verkaufen.«

»Worüber?«

»Ueber Goldstaub und Nuggets.«

»Donnerwetter! Wie hoch lautet der Schein?«

»Ich habe deren mehrere.«

»So seid Ihr verdammt glücklich gewesen. Zeigt einmal her!«

»Hat keinen Zweck!«

»Warum nicht? Wenn das Papier gut ist, kaufe ich es selbst. Mache zuweilen auch diese Art von Geschäften, notabene, wenn Etwas dabei zu verdienen ist.«

»Das ist's!«

Er zog die im Hide-spot gefundene Brieftasche hervor und wählte einen der Scheine aus, den er dem Händler überreichte. Dieser machte ein erstauntes Gesicht und warf einen höchst respectvollen Blick auf den zerrissenen und zerfetzten Mann, welcher sich im Besitze eines solchen Reichthumes zeigte.

»Zwanzig Tausend Dollars, auf den Inhaber lautend, deponirt bei Charlos Brockmann, Omaba! Der Schein ist gut. Was wollt Ihr haben?«

»Wieviel gebt Ihr?«

»Die Hälfte.«

Latour nahm ihm das Papier aus der Hand und schritt nach dem Eingange.

»Adieu, Master Livingstone!«

»Halt! Wieviel wollt Ihr haben?«

»Achtzehn Tausend zahlt mir jeder Banquieur so fort und baar; aber ich bin einmal hier bei Euch und habe Eile. Gebt Sechzehn und Ihr bekommt den Schein.«

»Unmöglich. Ich weiß nicht, ob Ihr der rechtmäßige – –«

»Well, Sir, Ihr wollt nicht, und damit gut!«

Der Mann hielt ihn am Arme zurück; er stieg mit seinem Gebote höher und höher und brachte endlich die verlangte Summe hinter dem Vorhange hervor. Er gehörte zu jener Art von Geschäftsleuten für Alles, denen es trotz ihres unscheinbaren Aussehens und ihrer absichtlich ärmlichen Einrichtung, an den nöthigen Baarbeständen doch niemals mangelt.

»Hier habt Ihr das Geld; ich habe heut einmal meinen schwachen Tag. Verkauft Ihr die anderen Scheine auch?«

»Nein. Und nun noch Eins. Mit Seeleuten habt Ihr keinen Verkehr?«

»Ein Wenig doch. Diese Sorte von Menschen hört niemals auf, Dollars zu brauchen.«

»Kennt Ihr die Schiffe, welche hier vor Anker liegen? Ich komme aus dem Lande und war noch nicht am Hafen.«

»So ziemlich.«

»Ist der ›l'Horrible‹ unter ihnen?«

»Der ›l'Horrible‹, Lieutenant Jenner, ja.«

»Danke, Sir. Adieu!«

Er ging. Livingstone begleitete ihn hinaus und nahm die Pferde in Empfang. Die beiden Fremden entfernten sich. Ein Gehülfe kam herbei, um die Thiere von Sattel und Zaum zu befreien.[708]

»Gutes Geschäft gemacht,« brummte der Pferdehändler Livingstone; »prächtige Rasse, famos gebaut; haben viel ausgehalten und werden bei guter Pflege sich bald wieder erholen.«

Noch war er um die eingehandelten Pferde beschäftigt, so ertönte lauter Hufschlag die enge Straße herauf. Zwei Reiter erschienen im Gallopp. Der Eine war ein Indianer dessen aufgebundenes und mit Adlerfedern geschmücktes Haar ihn als Häuptling bezeichnete. Der Andre war ein Weißer von herkulischer Gestalt mit weit über dem Nacken herabwallendem, weißem Haupthaar. Auch ihnen war eine ungewöhnliche Strapaze sehr wohl anzusehen, doch zeigten sie in ihrer Haltung ebenso wie ihre prachtvollen Thiere nicht die geringste Ermüdung.

Im Galopp vorübersprengend, warf der Indianer unwillkürlich einen Blick herüber nach dem Händler und riß in demselben Moment sein Pferd herum.

»Mein weißer Bruder blicke diese Pferde an!«

Der Andere war ihm ebenso schnell bis an die Baracke gefolgt. Ein kurzer Blick genügte, er sah das Schild und ritt bis hart an den Händler heran.

»Good day, Sir! Ihr habt soeben diese Pferde gekauft?«

»Yes, Master.«

»Von zwei Männern, welche folgender Maßen aussahen?«

Er gab eine sehr genaue Beschreibung Latours und Letriers.

»Das stimmt, Master.«

»Sind die Männer noch hier?«

»Nein.«

»Wo sind sie hin?«

»Weiß nicht; geht mich auch gar Nichts an!«

»Ihr müßt aber doch die Richtung wissen, in welcher sie davongegangen sind?«

»Sie bogen um die Ecke dort. Weiter kann ich Nichts sagen.«

Der Frager besann sich einen Augenblick, warf einen scharfen, forschenden Blick auf den Händler und fuhe dann fort:

»Ihr kauft nur Pferde?«

»Pferde und manches Andere.«

»Auch Nuggets?«

»Auch. Habt Ihr welche?«

»Nicht hier; sie kommen nach. Darf ich sie Euch anbieten?«[721]

»Wenn es nicht gleich ist, ja. Habe soeben all' mein Geld ausgegeben.«

»Den beiden Männern?«

»Dem Einen.«

»Er verkaufte Euch Depositen?«

»Ja.«

»Wie hoch?«

»Zu zwanzig tausend Dollars.«

»Wollt Ihr so gut sein, Sir, und mir den Schein einmal zeigen?«

»Warum?«

»Um zu sehen, ob es der Gentleman gewesen ist, mit dem wir gern zusammentreffen wollen.«

»Hm, so! Den Schein sollt Ihr sehen; aber in die Hand bekommt Ihr ihn nicht.«

Er trat in die Baracke und kam nach kurzer Zeit mit dem Papiere zurück. Der Fremde betrachtete es genau und nickte dann vor sich hin.

»Ihr habt blos dies Eine von ihm erhalten?«

»Nur dieses.«

»Hat er sich vielleicht nach irgend Wen oder Etwas erkundigt?«

»Ja. Er frug nach einem Schiffe, welches da draußen auf der Rhede liegt.«

»Nach welchem?«

»Nach dem ›l'Horrible‹.«

»Danke, Sir! Die Männer werden nicht wiederkommen; sollte es aber dennoch geschehen, so kauft ihnen Nichts mehr ab, sondern laßt sie festnehmen. Die Depositen gehören mir und sind mir von ihnen gestohlen worden. Ich werde vielleicht wieder bei Euch vorsprechen!«

Er zog sein Pferd herum, der Indianer that desgleichen, dann sprengten Beide wie vorher im Gallopp die Straße entlang.

Es wurde kein Wort zwischen ihnen gewechselt, bis sie am Quai des Hafens anlangten. Dort erkundigte sich der Colonel, denn dieses und kein Andrer war der Weiße, welches von den sichtbaren Schiffen der ›l'Horrible‹ sei, und als ihm der Bescheid geworden war, wandte er sich an seinen Begleiter.

»Mein rother Bruder ist mir auf der Fährte der Räuber gefolgt über die weiten Länder der Savanne. Wird er bei mir bleiben, wenn ich gezwungen bin, ein Schiff zu besteigen?«

»Winnetou, der Häuptling der Apachen, geht mit Sam Fire-gun über die ganze Erde und auch auf das große Wasser. Hugh!«

»Die Räuber haben nach dem Schiffe gefragt, welches da drüben liegt. Sie wollen über das Meer entfliehen. Aber es ist ein Kriegs- und kein Passagierschiff, welches man zu jeder Zeit besteigen kann. Sie sind noch am Lande.«

»Soll ich meinem Bruder sagen, was er thut?«

»Mein Freund spreche!«

»Er bleibe hier am Wasser, um das große Canoe zu bewachen, nach welchem sie gefragt haben; Winnetou aber wird zurückkehren vor die Hütten der großen Stadt, um zu erwarten und herzuführen die Jäger, welche zurückgeblieben sind, weil ihre Pferde müde waren.«

Sam Fire-gun neigte zustimmend den Kopf.

»Mein Bruder ist klug; er thue, wie er gesagt hat!«

Er stieg vom Pferde, welches er dem Hausknechte eines in der Nähe sich befindenden Gasthauses übergab. Der Apache aber kehrte allein den Weg zurück, welchen sie mit einander gekommen waren. –

Während dieses geschah, hatten Latour und Jean Letrier ihren Weg zwischen den Baracken und hölzernen Hütten des bereits früher erwähnten Stadttheils fortgesetzt. Langsam dahinschlendernd, bemerkten sie einen Mann, welcher aus einem engen Seitengäßchen hervortrat und, ihrer nicht achtend, in einiger Entfernung quer über die Straße schritt. Von kaum mittler Statur, und dabei schlank gebaut, trug er die Kleidung eines Diggers, der aus den Minen kommt, um von der anstrengenden Arbeit auszuruhen und dabei sich ein Weniges in der Stadt umzusehen. Ein breitkrämpiger und vielfach zerknitterter Strohhut hing ihm in das Gesicht hernieder, doch vermochte er nicht, das große, häßliche Feuermaal zu verdecken, welches sich von dem einen Ohre quer über die ganze Wange bis über die Nase zog.

Ueberrascht blieb Latour stehen und faßte seinen Begleiter am Arme.

»Jean, kennst Du Den?« frug er hastig.

»Den? Nein, Capitain.«

»Wirklich nicht?«

»Nein.«

»Ich habe falsch gefragt. Es sollte heißen: kennst Du Die?«

»Die? Alle Wetter, die Gestalt, die Haltung, der Gang, Capitain, es ist doch wohl kaum möglich.«

»Sie ist's, sage ich Dir, Clairon und keine Andere! Wir sind vollständig verwildert; aus dieser Entfernung erkennt sie uns nicht. Ein glücklicher Zufall führt sie uns vor die Augen; wir müssen ihr folgen!«

Sie schritten hinter dem Manne her, welcher nach kurzer Zeit in eine Bretterbude trat, über deren Thür mit einfachen Kreidezügen die Inschrift »Taverne of fine brandy« angebracht war. Vor und hinter diesen Buchstaben hatte man mit eben auch Kreide je eine Schnapsflasche auf das rissige Holz gemalt.

»Was thut sie in dieser Boutique? Sie hat genug Geld und wohnt jedenfalls anständig. Ihr jetziges Habit ist also eine Verkleidung, und ihr gegenwärtiger Gang hat irgend einen geheimnisvollen Zweck.«

»Wir müssen ihr hineinfolgen, Capitain.«

»Das geht nicht, Jean. Sie würde uns trotz unsers verwilderten Zustandes doch sofort erkennen, zumal sie uns in der Prärie als Jäger gesehen hat. Die Bude besteht aus einfachen Brettern; von vorn dürfen wir uns nicht nahen, vielleicht finde ich an ihrer Rückseite ein Astloch oder irgend eine Ritze oder Spalte, durch welche es mir möglich ist, das Innere zu überblicken. Du bleibst zurück und beobachtest[722] den Ausgang. Sollte sie den Ort verlassen, ehe ich zurückkehre, so kommst Du schleunigst, um mich zu benachrichtigen.«

Er wandte sich zur Seite. Die Gelegenheit war günstig. Die Hütte hatte keinen Ausgang nach hinten und wurde da durch einen kaum drei Fuß breiten Zwischenraum von einem ganz ähnlichen Bauwerke getrennt. Latour schob sich hinein und fand bald ein Astloch, durch welches er einen großen Theil des Schankraumes, in welchem zahlreiche Gäste saßen, zu überblicken vermochte.

Der Mann mit dem Feuermale hatte in der Nähe eines breiten Ofens Platz genommen, war dann aber plötzlich nach rückwärts verschwunden. Weiter nach dieser Seite hin, schloß Latour, befand sich vielleicht ein abgeschlossener Raum, der für private Zwecke dienen konnte. Er schob sich leise in dieser Richtung weiter, bis er hart hinter der dünnen Wand, an welcher er lehnte, mehrere Stimmen erklingen hörte. Er legte das Ohr an das Bret und lauschte.

»Wo treffen wir uns, Sir?«

»Nicht hier, das wäre unvorsichtig, auch nicht am Quai, sondern in der kleinen Bucht oberhalb der letzten Fischerhütte.«

»Und wann?«

»Wann ich kommen kann, ist noch unbestimmt, aber um Elf müßt Ihr versammelt sein, dürft jedoch vor meiner Anwesenheit nichts unternehmen.«

»Schön. Es wird einen tüchtigen Kampf geben, ehe das Fahrzeug unser ist.«

»Nicht so sehr, als Ihr denkt. Die Offiziere und Subalternen sind heut Abend an das Land geladen, und an Bord selbst wird ein Festgelage stattfinden, welches uns bestimmt in die Hand arbeiten muß.«

»Das läßt sich hören. Giebt es keinen Freund an Bord?«

»Der lange Tom ist da mit noch Einigen, die uns erwarten.«

»Alle Teufel, Ihr habt das Ding fein eingeleitet! Also der schwarze Capitain wird wirklich mit dabei sein?«

»Sicher. Es werden die Anker sofort gelichtet; der Wind ist gut; die Ebbe fällt passend, und wenn nicht ein ganz und gar unvorhergesehenes Hinderniß eintritt, so wird man von dem ›l'Horrible‹ bald dieselben Geschichten wie früher erzählen.«

»Auf uns könnt Ihr rechnen, Sir. Wir werden gegen dreißig Mann sein, und mit tüchtigen Offizieren und einem solchen Segler braucht man die ganze Marine der Welt nicht zu fürchten.«

»Das meine ich auch. Hier habt Ihr Euer Draufgeld und noch Einiges darüber, um zu trinken. Aber haltet Euch nüchtern, damit der Handstreich uns nicht etwa mißlingt!«

Ein Stuhl wurde gerückt; der letzte Sprecher entfernte sich. Latour hatte ihn auch an der Stimme erkannt, obgleich sie eine verstellte und in die tieferen Tonlagen hinabgedrückte war. Das Gehörte war so außerordentlich, daß Latour eine ganze Weile vollständig bewegungslos stand und auch wohl noch länger so verblieben wäre, wenn ihn nicht ein leises »Pst!« aus seiner halben Erstarrung aufgeschreckt hätte. Jean Letrier stand vor dem Zwischenraume und winkte.

»Sie ist fort, wieder zurück; schnell, schnell!«

Der Capitain drängte sich aus der Enge hinaus, gerade noch zur rechten Zeit, um den Gegenstand seiner Beobachtung hinter der nächsten Ecke verschwinden zu sehen. Die beiden Männer eilten ihm nach und verfolgten ihn durch die schmutzigen Gäßchen der Vorstadt und die breiten Straßen der besseren Stadttheile bis an das Gitter eines einsam gelegenen Gartens. Hier blickte er sich prüfend um und schwang sich, als er nichts Verdächtiges bemerkte, mit einem katzenartigen Sprunge hinüber. Hier hielten sie wohl gegen eine Stunde Wacht, aber vergebens; er kehrte nicht zurück.

»Sie muß hier wohnen, Jean. Laß uns das Haus suchen, zu welchem dieser Garten gehört!«

Um dies zu thun, mußten sie eine Seitengasse durchschreiten. Als sie aus derselben traten, bemerkten sie eine glänzende Equipage, welche vor der Thür eines Hauses hielt, welches kein anderes als das gesuchte sein konnte. Eine Dame war soeben eingestiegen und gab dem Kutscher das Zeichen. Latour trat in die Gasse zurück; das elegante Fahrzeug rollte vorüber, so daß die Gesichtszüge der Inhaberin zweifellos zu erkennen waren.

»Sie ist's!« rief Jean.

»Ja, sie ist's; hier ist eine Täuschung ganz unmöglich. Ich bleibe hier; Du aber gehst an das Haus und suchst ihren jetzigen Namen zu erfahren.«

Der Diener gehorchte dem Gebote und kehrte schon in kurzer Zeit mit der gewünschten Auskunft zurück.

»Nun?«

»Frau de Voulettre.«

»Ah, wie unvorsichtig, nachdem sie sich bereits einmal Chevalier de Poulettre nannte! Wo wohnt sie?«

»Sie hat die vollständige erste Etage inne.«

»Komm nach dem Hafen; dort werde ich Dir weitere Mittheilungen machen!«

Sie schritten der genannten Gegend zu und kehrten auf diesem Wege in einem »Store of dressing« ein, den sie in Beziehung auf Wäsche, Kleidung und sonstige Ausstattung vollständig verändert verließen. Langsam durch das Menschengewühl des Quais schreitend, zuckte es plötzlich wie ein heftiger Schreck über das Gesicht Letriers; er faßte Latour und zog ihn hinter einen großen Haufen aufgestapelter Waarenballen.

»Was giebt's?«

»Blickt gradaus, Capitain, und seht, ob Ihr den Mann kennt, der unter dem großen Krahne steht!«

»Ah – alle Teufel, der Colonel, Sam Fire-gun! Sie haben sich also nicht irre führen lassen und sind uns auf dem Fuße gefolgt. Wo mögen die Andern stecken?«

»Die hat der verdammte deutsche Polizist ganz sicher in der Stadt vertheilt, um uns aufzulauern und unsern Aufenthalt zu erforschen.«[723]

»Jedenfalls. Hat uns der Alte schon bemerkt?«

»Ich glaube nicht. Sein Gesicht war seitwärts gerichtet, als ich ihn sah, und bei unserm jetzigen Habitus sollte es ihm auch schwer werden, uns zu erkennen, wenn wir ihm nicht allzuweit zu nahe kommen.«

»Richtig. Jetzt blicke einmal da hinüber auf die Rhede. Kennst Du das Schiff, welches in der Nähe des Panzerschiffes liegt?«

»Hm – ja – das – das ist – Donner und Wetter, das ist kein anderes als unser ›l'Horrible‹, den kenne ich sofort, und wenn sie noch so sehr an seinen Segeln und Stangen herumgemodelt haben!«

»So komm!«

Sie nahmen ihren Weg durch das dichteste Gewühl und suchten sich ein entfernt liegendes Schankhaus, wo sie sich ein separates Zimmer geben ließen. Hier konnten sie ungestört verhandeln.

»Also Du hast unsern ›l'Horrible‹ erkannt?«

»Sofort, Capitain.«

»Weißt Du, wer ihn jetzt befehligt?«

»Nein.«

»Ein gewisser Lieutenant Jenner, den ich nicht kenne.«

»Habe den Namen auch nie gehört.«

»Und weißt Du, wer ihn morgen um diese Zeit befehligen wird?«

»Jedenfalls derselbe.«

»Nein.«

»So tritt ein Dienstwechsel ein?«

»Allerdings. Jenner muß ›aus der großen Tasse trinken‹ (wird ersäuft) und an seine Stelle wird der Vicomte de Latour treten oder, wenn Du lieber willst, der schwarze Capitain.«

»Hm, das ist kein übles Luftschloß, Capitain.«

»Luftschloß? Ich sage Dir, daß es in Wirklichkeit so sein wird.«

Jean Letrier lächelte.

»Dann wird die Miß Admiral natürlich wieder Segelmeister?« meinte er, auf den muthmaßlichen Scherz eingehend.

»Gewiß.«

»Und fegt mit der neunschwänzigen Katze das Verdeck wie vor alten Zeiten?«

»Oder auch nicht. Dieser Panther wird gezähmt; darauf kannst Du Dich verlassen!«

»Und der treue Jean Letrier, welche Stelle wird der haben?«

»Wird sich schon etwas Passendes finden lassen.«

»Schade um das hübsche Kartenhaus!«

»Und wenn es nun kein Kartenhaus, sondern ein festes, sichres und unumstößliches Gebäude wäre!«

Letrier war wirklich betroffen von dem ernsten, zuversichtlichen Tone seines Herrn. Er blickte demselben forschend in das Gesicht.

»Hm, in der Welt ist manches Unmögliche möglich, wenigstens für Unsereinen.«

»Allerdings. Höre, Jean, was ich Dir sagen werde!«

Er erzählte ihm, was er an den Brettern der Branntweinbude erlauscht hatte und fügte die Vermuthungen und Schlüsse bei, zu welchen ihn das gehörte Gespräch berechtigte. Jean staunte.

»Teufel! Diesem Frauenzimmer ist wahrhaftig so Etwas zuzutrauen.«

»Sie wird es ausführen, darauf kannst Du Dich verlassen.«

»Und wir?«

»Sagte ich Dir nicht, daß ich heut Abend den ›l'Horrible‹ befehligen werde?«

»Gut! Sie wird sich aber wehren.«

»Pah! Die Zeiten, in welcher sie ihrer Herrschaft sicher war, sind jetzt vorüber. Mein Plan ist einfach aber sicher.« –

Während sie in eifrigem Gespräche bei einander saßen, wurden in der Wohnung der Frau de Voulettre Anstalten zu einer glänzenden Soiree getroffen. Die Delikatessen aller Länder, die Weine aller Zonen waren vertreten, und die Dame des Hauses, welche von ihrer Spazierfahrt schon längst zurückgekehrt war, machte sich mit den Letzteren persönlich sehr viel zu schaffen. Sie öffnete eine Anzahl der Flaschen, schüttete in jede derselben ein feines, weißes Pulver und versiegelte sie dann sorgfältig wieder.

Der Abend nahte heran; es wurde dunkel, und aus den Fenstern ihrer Wohnung glänzte eine Lichtfluth, welche den Schein der Straßenlaterne weit überstrahlte.

Die Gäste, auch der Kommandeur des Panzerschiffes nebst den geladenen Offizieren der anderen Fahrzeuge hatten sich bei der schönen Frau eingefunden und schwelgten in den gebotenen Genüssen. Eine ganze Menge nobler Flaneurs und gewöhnlicher Leute belagerte das Portal, um einen kleinen Blick in das geschmückte Innere zu werfen oder den Geruchssinn an den ausströmenden Wohlgerüchen zu weiden.

Unter ihnen befanden sich zwei Männer in Matrosentracht. Sie standen schweigend neben einander und warfen höchst gleichgültige Blicke auf die Anderen. Ihr Augenmerk schien vorzugsweise auf eines der erleuchteten Fenster gerichtet zu sein. Lange, lange harrten sie. Da endlich wurde der Vorhang herabgelassen, der Schatten einer erhobenen Hand strich einige Male hinter demselben auf und nieder; dann verlöschte das Licht.

»Das ist das Zeichen,« flüsterte der Eine.

»Komm!« antwortete der Andere.

Sie schritten fort und bogen in das Gäßchen, welches am Tage Latour und Jean betreten hatten. An der Gartenpforte stand ein Koffer, neben ihm eine männliche Gestalt. Es war hier so dunkel, daß man die Einzelheiten nicht genau zu erkennen vermochte, doch war so viel zu sehen, daß der Mann kaum die Mittelgröße erreichte und einen mächtigen, dunklen Vollbart trug.[724]

»Ist der Wagen bestellt?« frug der Mann mit dem dunklen Vollbarte kurz.

»Ja.«

»Vorwärts!«

Seine Stimme klang befehlend, als sei er das Kommandiren von Jugend auf gewöhnt. Die Männer faßten den Koffer und schritten voran. Er folgte ihnen. An der Ecke einer Straße stand ein Wagen. Der Koffer wurde auf den Bock desselben gehoben; die Drei stiegen ein, und das Gefährde rollte im Trabe zur Stadt hinaus. Im Freien angekommen, hielt es an. Die Fahrgäste stiegen aus, ergriffen den Koffer wieder und wandten sich, während der Wagen zurückkehrte, dem Strande zu.

Sie hatten denselben noch nicht erreicht, so ertönte hinter einem Busche eine Stimme.

»Halt, wer da!«

»Der schwarze Capitain.«

»Willkommen!«

Eine Schaar dunkler Gesellen eilte herbei und umringten ehrfurchtsvoll den bärtigen Mann.

»Die Boote in Ordnung?«

»Ja.«

»Die Waffen?«

»Alles recht.«

»Fehlt Jemand?«

»Keiner.«

»Dann come on, ich nehme den ersten Kahn!«

Der Koffer wurde eingehoben, die mit Lappen sorgfältig umwickelten Ruder eingelegt, und die Fahrzeuge setzten sich in eine vollständig geräuschlose Bewegung.

Zunächst strebten sie grad auf die Höhe hinaus, dann legten sie scharf nach Steuerbord über und näherten sich auf diese Weise von der Seeseite aus mit außerordentlicher Vorsicht dem mitten in tiefer Dunkelheit liegenden »l'Horrible«, an dessen Spriet und Stern nur je eine einsame Schiffslaterne brannte.

Sie waren jetzt so nahe an das Fahrzeug herangekommen, daß man sie bei der gewöhnlichen Aufmerksamkeit ganz sicher bemerken mußte. Der, welcher sich Capitain genannt hatte, stand aufrecht am Steuer und hielt sein scharfes Auge forschend auf die dunkle Gestalt des Schiffes gerichtet. Es war ein Moment, in dem sich Alles entscheiden mußte und der seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Da ertönte der halblaute, heißere Schrei einer Möve.

Die Leute in den Booten athmeten auf; es war das mit dem langen Tom verabredete Zeichen, daß an Bord[737] Alles gut gehe. Einige Taue hingen am Hintertheile herab.

»Legt an und dann hinauf!« ertönte das leise Kommando.

Einige Augenblicke später standen sämmtliche Männer am Deck. Tom hatte sie erwartet.

»Wie steht es?«

»Gut. Ich und die Unsrigen haben die Wache. Die Andern schmaußen unten in der Vormarskoje oder liegen schon betrunken am Boden.«

»Hinunter! Doch schont sie. Sie werden gefesselt und in den Raum geschlossen; später müssen sie zu uns schwören. Je mehr Arme wir bekommen, desto besser für uns.«

Dieser Befehl wurde schnell und ohne allen Lärm ausgeführt. Die Nichts ahnende und vom Grog berauschte Mannschaft wurde leicht überwältigt, gebunden und in dem Kielraum geborgen. Dann zog man den Koffer empor, welcher in die Capitainscajüte getragen wurde, und löste die Boote, die man mitgebracht hatte, von den Tauen. Sie konnten schwimmen – das Schiff befand sich vollständig in der Gewalt der Corsaren.

Jetzt versammelte der Schwarzbärtige seine Leute um sich und wieß Jedem seine Stelle an.

»Wir stechen in See. Schmiert die Ankerwinde und die Takelrollen mit Oel, damit kein unnöthiges Geräusch entsteht. Kommandiren darf ich nicht, sonst hört man mich da drüben auf dem Panzerschiffe, aber ich hoffe, daß Jeder weiß, was er zu thun hat!«

Die Mannschaft vertheilte sich. Der Kommandeur eilte von Ort zu Ort, um seine Befehle leise auszusprechen; der Anker hob sich; die Segel rollten empor und der günstige Wind begann, sie zu blähen. Das prachtvolle Schiff gehorchte dem Steuer; es legte sich langsam herum, theilte die widerstrebenden Wogen und schoß der offenen See entgegen.

Da erst erscholl von dem Decke des Panzerschiffes ein Schuß – ein zweiter – ein dritter. Man wußte dort, daß die Offiziere des »l'Horrible« an das Land gegangen waren, hatte, allerdings zu spät, die Bewegung des Schiffes bemerkt, mußte natürlich sofort etwas Ungewöhnliches oder gar Gesetzwidriges vermuthen und gab nun durch die drei Alarmschüsse das Zeichen zur allgemeinen Aufmerksamkeit.

Der jetzige Befehlshaber des »l'Horrible« hatte sich auf das Quarterdeck begeben. Der lange Tom stand an seiner Seite.

»Horch, Tom, sie haben bemerkt, daß wir uns davonmachen!«

Der Angeredete warf einen forschenden Blick empor zu den sich von dem Himmel hervorhebenden Segeltüchern.

»Wird ihnen Nichts helfen. Sie haben die Augen zu spät aufgethan. Aber – Ihr kennt meinen Namen, Sir?«

»Ich dächte, der schwarze Capitain müßte ihn doch kennen; bist ja mit mir genugsam herumgesegelt.«

»Der schwarze Capitain – mit Euch? Nichts für ungut, Sir, ein tüchtiger Offizier seid Ihr, das habe ich schon in der kurzen Zeit bemerkt, aber der Schwarze, der seid Ihr nicht, den kenne ich.«

»Pah, ich werde es aber sein.«

»Wird nicht gut gehen. Die Leute wollen nur unter ihm dienen, und der Rothmaalige, ich meine den Agenten, der uns angeworben hat, versprach uns ja, daß er noch lebe und heut Abend am Deck sein werde.«

»Der Rothmaalige? Hast Du ihn wirklich nicht erkannt?«

»Erkannt –? ihn –? Habe den Kerl in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«

»Tausendmal schon, Tom; tausendmal, sage ich, hast Du ihn oder vielmehr sie gesehen. Besinne Dich!«

»Ihn –? Sie –? Donnerwetter, sie – sie? Sollte – sollte es die Miß Admiral gewesen sein!«

»Sie war es. Und glaubst Du nicht, daß sie ganz das Zeug hat, den schwarzen Capitain zu spielen?«

Der Lange trat überrascht einige Schritte zurück.

»Alle Wetter, Sir – Miß, wollte ich sagen, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. Ich denke, Ihr seid aufgehangen worden, als die Rothjacken den ›l'Horrible‹ nahmen!«

»Nicht ganz. Aber höre: Du bist an Bord der Einzige, der den Capitain wirklich kennt; Du verschweigst, daß ich und der Agent Einer und Derselbe sind und läßt sie dabei, daß ich der Schwarze bin. Verstehst Du?«

»Vollständig.«

»Nun? Du sollst Dich nicht schlecht dabei stehen.«

»Hm, mir ist es sehr egal, ob ein Sir oder eine Miß das Kommando führt, wenn es nur immer eine gute Priese giebt. Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«

»Gut. Doch schau, die Lichter im Hafen und auf der Rhede werden lebendig. Man schickt sich zur Verfolgung an. Pah, in zwei Stunden sind wir ihnen, selbst bei hellem Tage, aus den Augen.«

Er ließ alle Leinwand aufziehen, sodaß das auf der Seite liegende Schiff mit verdoppelter Geschwindigkeit die Wogen theilte, und hing sich mit dem Arme in die Wantensprossen, um die lange entbehrte Genugthuung, den famosen Segler unter den Füßen zu haben, in vollen Zügen zu genießen.

Erst als der Tag zu grauen begann und seine Anwesenheit an Deck nicht mehr nothwendig war, stieg er herab und schritt zur Cajüte. Dort stand sein Koffer. Eine Lampe brannte.

»Hm,« machte er, sich mit sichtlicher Befriedigung in dem netten Raume umsehend, »der Jenner ist so übel nicht, wie ich dachte; er hat sich hier ganz prächtig eingerichtet. Doch, ich muß vor allen Dingen sehen, ob mein geheimes Fach noch vorhanden ist, von dem selbst Latour Nichts wußte.«

Er schob einen Spiegel bei Seite und drückte auf ein dahinter befindliches und kaum sichtbares Knöpfchen. Ein Doppelthürchen sprang auf und ließ eine Vertiefung bemerken,[738] in welcher allerlei Papiere aufgeschichtet lagen. Er griff nach ihnen.

»Wahrhaftig Alles unberührt! Das Versteck ist gut; ich werde es sofort wieder benutzen.«

Er zog einen Schlüssel hervor und öffnete den Koffer. Ein Fach desselben enthielt Nichts als Geldrollen und Paquete von Banknoten.

»Das Geld der Herzogin von Oerstädt. Ha, jetzt sollte Latour hier stehen!«

Er barg es in das Versteck, verschloß dieses dann und schob den Spiegel wieder vor. Dann entnahm er dem Koffer allerlei Wäsche und Kleidungsstücke, welche in dem Kajütenschranke Platz fanden, und zog dann dieselben kostbaren nautischen Instrumente hervor, welche Lieutenant Jenner bei der Frau de Voulettre bewundert hatte.

»Wenn dieser Lieutenant gewußt hätte, weshalb seine schöne Dame sich mit diesen ›langweiligen‹ Dingen befaßte! Bei allen Heiligen, es ist der beste Coup meines Lebens, den ich heut ausgeführt habe, und ich möchte nur wissen, was Latour dazu sagte, wenn er hier stände und – –«

»Er sagt ›Bravo‹, Clairon,« ertönte es hinter ihr, während sich eine Hand auf seine Schulter legte.

Entsetzt fuhr er herum und starrte mit weit aufgerissenen Augen in das Gesicht des soeben Genannten.

»La – La – Latour!« stammelte er, beinahe kreischend.

»Latour!« nickte dieser mit ruhigem, überlegenem Lächeln.

»Nicht möglich! Sein Geist – sein – sein – –«

»Papperlapapp! Glaubt der Segelmeister des ›l'Horrible‹ an Geister?«

»Aber wie – wo – wenn – wie kommst Du nach Franzisko und wie hier an Bord.«

»Das Wie werde ich Dir später erklären, mein Liebchen; das Warum aber weißt Du wohl?«

»Nichts, gar Nichts weiß ich!«

»Auch von meiner Kasse weißt Du Nichts, die verschwunden war, als Du es vorzogst, mich als elendes Wrack in New-York liegen zu lassen?«

»Nichts.«

»Auch von dem Briefe Nichts, mit welchem Du mich in der Prairie den Jägern Sam Fire-gun's überliefern wolltest?«

»Nichts!«

»So! Leider bin ich in der glücklichen Lage, mit vollständigen Beweisen vor Dir zu stehen. Aber zunächst wollen wir dem Augenblicke Rechnung tragen. Du hast den ›l'Horrible‹ entführt.«

Sie schwieg.

»Und Dir dazu Leute angeworben –«

Sie schwieg auch jetzt.

»Denen Du versprachst, daß der schwarze Capitain die Führung übernehmen werde.«

Sie rang sichtlich noch unter dem Schrecke, den ihr sein Erscheinen verursacht hatte.

»Um Dir Gelegenheit zu geben, Dein Wort zu halten, bin ich schon vor Euch an das Schiff geschwommen und habe mich an den Sorglienen und Puttingen versteckt, bis ich es an der Zeit fand, mich Dir vorzustellen. Du bist wahrhaftig ein ganz verteufeltes Frauenzimmer, Clairon, wenn auch der rothe Agent ein Wenig häßlicher sah, als die schöne Frau de Voulettre, und weil Du Deine Sache so gut gemacht hast, werde ich Dir, allerdings nur für einstweilen und bis wir abgerechnet haben, Deine frühere Stellung als Segelmeister wieder einräumen. Thu' also immerhin den Bart herab; er ist Dir lästig und den ›Schwarzen‹ kannst Du ja doch nicht imitiren.«

Er hatte in einem ruhigen, überlegenen Tone gesprochen, der ihr das Blut in die Wangen trieb und ihre Augen katzenartig erfunkeln ließ.

»Segelmeister, ich? Und wenn ich Dich nun nicht kenne?« zischte sie.

»So kennt mich der lange Tom und Jean Letrier. Sie hängen beide mehr an mir, als an dem grausamen Panther, der sich Clairon nennt.«

»Jean Letrier? Wo ist er?«

»Hier an Bord. Er kam mit mir und spricht oben mit dem langen Tom, um ihm zu sagen, daß ich wirklich anwesend bin.«

»Es wird Dir und ihm nichts helfen,« raunte sie ihm grimmig entgegen. »Der ›l'Horrible‹ ist ein Piratenschiff und ich bin sein Capitain. Wer ohne meine Erlaubniß seine Planken betritt, der büßt es mit dem Tode!«

Sie riß den Revolver von der Seite und schlug auf ihn an. Ein blitzschneller Schlag seines Armes schleuderte ihr die Waffe aus der Hand; dann faßte er sie bei den Schultern und drückte ihre schlanke, geschmeidige Gestalt an die Wand, als sei sie daran angenagelt.

»Clairon, hör', was ich Dir ein für alle Mal sage! Einst warst Du mir gewachsen, jetzt aber nicht mehr. Das Wohlleben in San Franzisko hat Dich entkräftet, die Savanne mich aber doppelt stark gemacht. Auch die Liebe zu Dir vermag nichts mehr über mich. Ich werde mit Dir abrechnen und hätte Dich trotzdem bis auf Weiteres in Deiner einstigen Stellung als zweiter Offizier gelassen. Doch Du hast meinen Tod gewollt, und mein Leben stand in Gefahr, so lang ich Dir vertraute. Ich bin Capitain meines Schiffes, und Du – Du wirst unschädlich gemacht!«

Ein fürchterlicher Schlag seiner geballten Faust traf ihren Schädel, so daß sie, wie vom Blitze erschlagen, augenblicklich leblos zusammenbrach. Er fesselte sie mit denselben Stricken, mit denen ihr Koffer eingeschnürt gewesen war, und stieg dann nach oben.

Der Morgen war jetzt vollständig hereingebrochen, so daß man mit einem Blicke die Situation zu übersehen vermochte. Die Mannen hatten sich alle am Deck versammelt und einen Kreis um den langen Tom und Letrier gebildet, welche ihnen zu erzählen schienen. Da fiel der Blick des Letzteren auf Latour. Er sprang vor und schwenkte den Südwester:[739]

»Das ist er, Ihr Leute. Vivat, der schwarze Capitain!«

Die Hüte flogen in die Luft; der Ruf wurde von jeder Kehle wiederholt.

Latour winkte ihnen gnädig zu und trat mit stolzem Schritte in ihre Mitte. In kurzer Zeit war Allen der Eid abgenommen und Jeder erhielt ein hoch bemessenes Segelgeld. Die Waffen und Wachen wurden vertheilt, die Schiffsordnung einstweilen mündlich bestimmt, und als das Alles in Ordnung war, begab sich der Capitain mit Letrier wieder in seine Cajüte, um nach Clairon zu sehen.

Die Besinnung war ihr wiedergekehrt, doch schloß sie sofort die Augen, als sie ihn eintreten sah. Er bog sich über sie.

»Wo ist das Geld, welches Du mir raubtest?«

Ihre Lider öffneten sich; ein haßerfüllter Strahl schoß zwischen ihnen hervor auf den Fragenden.

Er wiederholte seine Frage.

»Frag, so oft Du willst; eine Antwort bekommst Du nicht.«

»Ganz nach Belieben!« lächelte er. »Ein großer Theil ist natürlich fort; die Frau de Voulettre hat jedenfalls kostspielige Bedürfnisse gehabt; das Uebrige aber ist hier an Bord, ich kenne Dich.«

»Suche es.«

»Das werde ich thun. Und finde ich Nichts, so giebt es Mittel, Dich zum Sprechen zu bewegen. Jean!«

»Capitain?«

»Das Frauenzimmer bleibt gefesselt wie bisher und erhält ihren Platz in meiner eigenen Koje. Ihr Wärter bin nur ich; kein Andrer hat bei ihr Zutritt, auch Du nicht, und wer den kleinsten Versuch macht, mit ihr zu verkehren, bekommt die Kugel. Uebrigens darf außer Dir kein Andrer wissen, wo sie sich befindet. – Jetzt bring die frühere Mannschaft des ›l'Horrible‹ einzeln an Deck. Ich werde sehen, was aus den Leuten zu machen ist!«

Jean ging. Latour zog seine Gefangene in die Nebenkoje und verdoppelte hier ihre Fesseln. Er wußte, daß er die Wahrheit gesagt habe: sie hatte keine Macht mehr über ihn. – – –

Quelle:
Auf der See gefangen. Criminalroman von Karl May. In: Frohe Stunden. 2. Jg. Dresden, Leipzig (1878–1879). Nr. 47, S. 737-740.
Lizenz:
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