V.

[732] Die schwere Zeit nach der Kirchweih war vergangen, Weihnachten war vorüber und auch die Osterglocken hatten ausgeklungen. Der Pfarrer hatte es damals durch seine Vermittelung so weit gebracht, daß der Kantor das Projekt verschoben hatte; aber nach sechs Monaten sollte die Verlobung und nach vollendetem Trauerjahr des Teichhofbauers die Hochzeit gefeiert werden.

Der Letztere war ein fast täglicher Gast des Schulhauses geworden, wobei ihm Alwine so sorgfältig aus dem Wege ging, daß von einer Annäherung nicht die Rede sein konnte. Auch von einem Einflusse des Kantors auf den Wandel seines beabsichtigten Schwiegersohns war wenig oder nichts zu bemerken; der Teichbauer hieß der Kartenbalzer nach wie vor und machte diesem Namen keine Schande. Der Förster und noch Andere wußten von ihm zu erzählen, und es war wirklich zu verwundern, daß der Kantor so fest an dem einmal gefaßten Plane hielt. Nur seinem starren Kopf, der von keinem Weichen wußte, war dies zuzuschreiben.

Dabei aber kannte das ganze Dorf die Liebe zwischen Heiner und Alwine, und so sehr die letztere unter der strengsten Aufsicht ihres Vaters stand, man erzählte sich doch, daß die Beiden sich täglich träfen und sprächen, obgleich kein Mensch sie bei einem solchen Stelldichein getroffen und überrascht hatte. Zum Tanz durfte das Mädchen gar nicht mehr gehen; dafür mußte sie fleißig an ihrer Ausstattung arbeiten, obgleich sie dabei verblieb, den Balzer auf keinen Fall zu nehmen und selbst am Altare noch nein zu sagen.

Heiner war schon längst nicht mehr Mitglied der Sängerschule, und man konnte nicht sagen, ob er vom Kantor ausgestoßen worden oder selbst ausgetreten sei. Seine Lieder hatten stets einen bedeutenden Theil des Repertoirs ausgemacht und waren auf den Sängerzügen in alle Welt hinausgetragen worden; jetzt hörte man keines derselben mehr während der Unterrichtsstunden; doch ließ sich hier und da verlauten, daß der Kantor jedes neue zu kennen trachte und im Stillen musikalisch bearbeite. Die Gedichte des Vogelstellers waren stärker als der Haß des Musikmeisters.

Das letzte Weihnachtsfest war auch das erste gewesen, an welchem die Aufführung von Silberheiners Weihnachtskantate ausgefallen war, die stets nicht nur Ehre und Ruhm, sondern auch einen reichlichen Ertrag für die Sängerkasse gebracht hatte.

So war also Ostern schon vergangen, und da der noch auf den Fluren lastende Schnee die Feldarbeit verhinderte, so hatte man eine wandernde Schauspielertruppe, welche eine Reihe von Vorstellungen im Dorfe zu geben beabsichtigte, mit Freuden willkommen geheißen. Der Direktor derselben wohnte mit seiner Familie beim Kantor, welcher mit seiner Tochter an jedem Adende im Theater zu sehen war. Alwine hatte noch niemals einer Vorstellung beigewohnt; sie fühlte sich von dem Eindrucke derselben vollständig bezaubert, und das Entzücken, welches dieser Genuß ihr bereitete, dehnte seinen Einfluß nicht nur über ihr Wachen, sondern sogar über ihre Träume aus. Es erschloß sich ihr hier eine Welt voll Glanz und Flimmer, voll Schein und Täuschung, deren Gestalten aber die Bewunderung und den Applaus der biedern Dörfler ernteten. Sie fühlte sich von ihr angezogen, in sie hineingerissen wie in einen Strudel, der den unvorsichtigen Schwimmer schon von weitem packt, desto stärker und unwiderstehlicher wird, je näher man ihm kommt, und endlich mit seinen Wassern Alles verschlingt und überbraust, was er einmal ergriffen hat.

Sie war bald mehr in der Stube der Direktorin, als in ihrer eignen Wohnung, half mit Eifer bei der Herstellung oder Zurichtung all der werthlosen Requisiten, welche nur auf Lampenlicht berechnet sind, und vertiefte sich mit einer wahren Leidenschaft in die Lektüre der vorhandenen Bücher und Manuskripte, welche meist von andern Bühnen ausgemerzte Ritter-, Räuber-, Klosterstücke oder anderes untaugliches oder gar schädliches Zeug enthielten, voll von einem Leben, welchem nichts so fremd ist als die Wirklichkeit.

Als die männlichen Mitglieder der Truppe bemerken, welcher Gast bei der Direktion verkehrte, stellten sie sich weit öfter ein, als es in geschäftlicher Beziehung geboten war, und bald bildete das schöne Mädchen den Mittelpunkt eines Kreises, der ihr in der auffälligen und volltönenden Weise dieser Art von Künstlern den Hof machte. Sie wurde förmlich berauscht und konnte auf einmal nicht begreifen, daß sie sich von ihren bisherigen Verhältnissen befriedigt gefühlt hatte.

Eines Abends ließ sich kurz vor Beginn der Vorstellung die erste Liebhaberin als plötzlich unwohl melden. Sie hatte zwei Lieder zu singen, welche so eng mit dem Stücke zusammenhingen, daß sie unmöglich gestrichen werden konnten. Der Direktor sah sich in eine Verlegenheit versetzt, für die ihm Alwine als Rettungsengel erschien. Sie war bei der Meldung zugegen, und als sie hörte, daß keine von den andern Damen die nöthige Stimme habe, meinte sie:

»Geht es nicht, daß die Lieder hinter der Scene gesungen werden?«

»Das geht allerdings; die betreffende Darstellerin müßte dann den Gesang mimisch vingiren, so daß die Zuhörer getäuscht werden. Aber auch für diesen Fall habe ich keine geeignete Kraft.«

»Der Vater geht heut nicht in das Theater, und wenn niemand etwas davon erfährt, so will ich den Vortrag übernehmen.«

»Sie? Sie singen?« frug der Direktor rasch.

»Ja,« antwortete sie mit erkennbarem Selbstbewußtsein.

»Aber Sie kennen die Einlagen wohl kaum!«

»Das thut nichts; ich singe sie prima vista.«

Das war ein Kunstausdruck, den der gute Mann kaum selbst einmal gehört hatte und der ihn mit Respekt erfüllte. Er kramte in allerlei Schriften herum und brachte endlich einige Notenblätter zum Vorschein.

»Hier sind die Stimmen. Wollen Sie einen Blick darauf werfen?«

Sie that es und lächelte siegesgewiß.

»Hören Sie einmal!«

Sie begann zu singen. Der Direktor horchte überrascht auf, als er diese glockenreinen, festen und doch so einschmeichelnden Töne vernahm. Solch eine Stimme hatte er noch niemals gehört, und von Vers zu Vers wuchs seine Bewunderung. Als das Mädchen endete, schlug er enthusiastisch die Hände zusammen.

»Fräulein, Sie haben ein Fürstenthum, ein Königreich in Ihrer Kehle, und es ist wahrhaft jammerschade, daß diese seltene Gabe hier in diesem Erdenwinkel verkümmern soll. Widmen Sie sich der Kunst, und ich stehe Ihnen dafür, daß Sie Gold und Pretiosen die Hülle und Fülle haben und Grafen, Generale und Minister zu Ihren Füßen sehen werden! Wollen Sie den Vortrag übernehmen?«

»Ja,« antwortete sie leise. Es schwindelte ihr.

»So werde ich dafür sorgen, daß niemand etwas merkt. Sie gehen zeitig in die Vorstellung und zwar gleich hinter die Coulissen, die Sie erst wieder verlassen, wenn das Publikum sich vollständig entfernt hat.«

So geschah es. Die Darstellerin gestikulierte so gut, daß die guten Bauern wirklich meinten, der Gesang sei ein Produkt ihrer Kehle. Auch Heiner befand sich unter ihnen. Er war der Einzige, welcher nicht in den stürmischen Applaus einfiel, vielmehr hatte sich seine Miene von Strophe zu Strophe verfinstert.

»Hast's gehört, Heiner?« frug sein Vater, welcher neben ihm saß. »Die hat aane Stimm' grad wie die Alwin', die sich schön wundern thät, wenn sie heut zugeg'n wär.«

»Sie ist zugeg'n, aber wundern thut sie sich net.«

»Zugeg'n? Ich seh doch nix von ihr!«

»Aber gehört hast' sie. Sie steckt hinter der Scen' und hat das Lied gesungen.«

»Wa–wa–was? Die Alwin'? Ich denk', die Spielerin ist's gewes'n. Sie hat doch den Mund auf- und zugeklappt und grad so gethan als ob sie singt.«

»Sie hat vielleicht kaane Stimm', und da ist die Alwin' für sie eingetret'n.«

»Wenn das wahr ist, so hört nun All's und Verschiedenes auf! Läßt sich das Madel vom Kukuk verblend'n und singt gar schon im Theater. Die kann's noch weit bringen in der Welt. Heiner, Heiner! Und Du vertrittst ihr immer noch die Brück'!«

Heiner antwortete nicht. Er sprach überhaupt kein Wort mehr, ging nach der Vorstellung schweigsam nach Hause und stieg ebenso schweigsam hinauf in seine Kammer. Dort setzte er, statt zur Ruhe zu gehen, sich an den kleinen Tisch und starrte, in trübe Ahnungen und Gedanken versunken, vor sich hin. Dann tauchte er die Feder ein, und Zeile um Zeile floß es auf das Papier:


»O gräme nie ein Menschenherz,

Das Dein in treuer Liebe denkt;

Du hebst wohl nimmermehr den Schmerz,

Der sich in seine Tiefen senkt!

O mach, daß keine Thränenfluth

Um Deinetwillen sich ergießt,

Die Thräne ist des Herzens Blut,

Mit dem das Leben auch entfließt.

Drum sorge, daß kein Herzeleid

Du jemals hier verschulden magst,[732]

Es kommt die Stund, es kommt die Zeit,

Wo Du die schwere Schuld beklagst!«


Er steckte die Verse zu sich, und als er vernahm, daß der Vater sich schlafen legte, blies er das Licht aus und stieg leise und vorsichtig die Treppe wieder hinab. Die Hausthür unhörbar öffnend und wieder verschließend, blickte er sich um, ob er unbeobachtet sei; dann huschte er über die Straße hinüber in den Schulgarten, wo er in der Laube Platz nahm.

Gerade als er über die Straße schlüpfte, kam eine andre Gestalt langs des Zaunes herbeigeschlichen und duckte sich bei seinem Anblicke schnell in das Dunkel der Umfassung nieder. Es war Balzer.

»Das ist der Heiner,« flüsterte er, »der in den Gart'n geht. Endlich bin ich seinem Schlich auf der Spur. Rasch ihm nach, damit ich den Ort entdeck', an dem er sich verbirgt!«

Im Nu war er über den Zaun hinüber und kam gerade recht, Heiner in seinem Schlupfwinkel verschwinden zu sehen.

»Schau, in die Laub' also geht er! Und da hat er auch gesteckt damals, als ich vom Kirmeßtanz herkam. Jetzt muß ich nun noch wart'n, ob die Alwin' kommt!«

Seine Geduld wurde auf keine zu lange Prbe gestellt. Sie kam und frug, sich zum Eingang niederneigend:

»Bist' da, Heiner?«

»Ja. Komm nur herein!«

Sie folgte dem Wunsche, nahm neben ihm Platz und wurde von seinen Armen umschlungen.

»Warst im Theater heut, Heiner?«

»Ja. Und Du?«

»Nein, sonst hättest' mich ja gesehen.«

»Warum warst' net?«

»Der Vater hatt' zu schreib'n und allein' durft' ich net gehen.«

»Wie schade! Sonst hättest' zwei Lieder gehört, die mir sehr gefallen hab'n. Also ins Theater darfst' net ohne den Vater?«

»Nein.«

»Aber hinter die Couliss'n?«

»Heiner!«

»Wirst auch nein sag'n?«

Sie schwieg, und erst nach einer Weile antwortete sie unsicher: »Hast mich wohl erkannt?«

»Gleich beim erst'n Ton, Alwin', hast' mich wirklich lieb, so lieb, wie Du immer sagst?«

»Ja, Heiner.«

»Warum betrübst mich denn so?«

»Womit?«

»Die Leut' erzähl'n, das Theater hätt' es Dir angethan; ich seh vom Fenster aus, wie die Spieler um Dich scharwenzeln, und nun singst' gar schon auf dem Podium! Hast net daran gedacht, ob es mich kränkt?«

»Nein. Es ist gar nix Unrechts dabei!«

»Ja, aan Vergehn ist's net, das ist wahr; aber hat's Dein Vater gewußt?«

»Ja.«

»Wirklich? Dann wundert mich's von ihm. Aber daß Du zu mir thust, als seist' net im Theater gewes'n, das ist aan Zeich'n, daß Dir das Gewiss'n dennoch geschlag'n hat.«

»Ich wollt' Dich net belüg'n, sondern nur erst sehn, ob Du mich erkannt hast.«

»So! Dann bitt ich inständig, thu's net wieder, Alwin'! Ich bin grad und ehrlich, mich hörst' nie schmeicheln und schön thun; darum gefällts Dir bei den Spielern besser als bei mir, und ich hab schon zweimal hier gesess'n und vergebens auf Dich gewartet. Alwin', das Theater ist schön von auß'n und bei Licht, aber am Tag und innen da wohnt eitel Unglück und Herzeleid. Glaub mir das und laß Dich net vom Schein verführ'n. Aan Blendwerk hält nie lange vor, und die Reu ist sicher hinterher.«

»Warum sagst' das zu mir? Denkst etwa gar, ich thu 'was Unguts?«

»Nein, das denk ich net, dazu bist' mir zu werth und rein; aber von Allem, was man sieht und hört, setzt sich 'was fest im Innern, und ich möcht' net hab'n, daß auch der kleinste Hauch mir Deine Seel' vertrübt. Schau, ich bin net stolz und aufgeblas'n, aber wenn ich wollt', so könnt' ich wohl auch sag'n, daß ich aan Künstler bin. Ich arbeit' Tag und Nacht, damit ich geistig wachs',[733] und Du sollst die Fee werd'n, durch deren Lieb' und Güt' ich zum Ziel gelang'!«

»Hast wieder 'was geschrieb'n?«

»Nix als aan kurz' Gedicht.«

»Hast's mit?«

»Ja. Hier hast's. Und wenn Du's lies'st, so denk daran, daß ichs geschrieb'n hab, gleich als ich aus dem Theater kam!«

»Wenn's gut ist, komponirts der Vater. All' die Gedicht', die Du mir bringst, steck ich in seine Bücher; dann findet er bald dies bald das und denkt, es stammt von früher her. Es wird die Zeit schon kommen, wo Ihr wieder einig seid.«

»Das geb der liebe Gott!«

Er zog sie fester an sich, und nun begannen sie in süßer Vergessenheit der Gegenwart an den köstlichsten Lustschlössern zu bauen, bis die gewöhnliche Zeit des Scheidens gekommen war. Sie traten aus der Laube und reichten sich die Hände.

»Hast' morg'n wieder Zeit, Alwin'?«

»Ich weiß noch net, aber komm lieber erst übermorg'n um dieselbe Zeit, sonst wag'n wir zu viel.«

»Hast Recht. Schlaf wohl, meine Fee, und bleib immer gut und treu!«

»Gut' Nacht!«

Ein leiser Kuß erklang, dann schieden sie.

Als sie sich entfernt hatten, erhob sich Balzer von der Erde. Er hatte dicht an der Laubenwand gelegen und beinahe jedes Wort vernommen.

»Jetzt hab ich ihn nun sicher! Also aan Künstler ist er, hahaha! Er soll bald erfahr'n, wie weit er kommt mit seiner Kunst und seiner hübsch'n Larv'. Dem Kantor muß ich's sag'n, gleich morg'n früh, wo er den saubern Patron abfangen kann, und dann – – – doch nein, das könnt' mich ja verrath'n. Ich darf von der Laub' nix wiss'n, net das Geringst', sonst geht mir's an den Krag'n. Mit den Spielern mag sie immer schamerir'n, das schadet nix; sie gehn wieder fort und er ärgert sich darüber. Aber mit ihm soll's aus werd'n, und das bald, dazu bin ich schon der Mann!« –

Am andern Nachmittag saß der Kantor wie festgebannt am Klaviere, wo er an einem Manuskript arbeitete. Alwine lauschte und mußte heimlich lächeln, als er mit der Arbeit fertig war und nach den einleitenden Takten mit fester Baritonstimme begann:


»O gräme nie ein Menschenherz,

Das Dein in treuer Liebe denkt.«


Er hatte also den Zettel gefunden und war von den darauf befindlichen Worten an das Instrument getrieben worden. Das Lächeln auf ihrem Gesichte aber verlor sich nach und nach, denn die Töne, welche sie hörte, waren dem Texte angemessen und ganz geeignet, hinunter bis ins tiefste Herz zu dringen.

»Wie schön, wie schön; das schreib ich mir ab!« meinte sie. »Es ist wirklich jammerschade um den Heiner, daß er nichts Besseres ist. Was könnte er für ein Dichter und mit seinem Tenor für ein Sänger werden, wenn er an ein Theater gehen wollte! Aber so einen Vorschlag darf ich ihm gar nicht machen, denn, so lieb ich ihn habe, mit seinen Ansichten ist und bleibt er doch vom Dorfe!«

Sie freute sich, daß sie ihn für heut nicht bestellt hatte, denn es war Ruhetag für die Schauspieler, und da kamen sie ganz sicher Abends zum Direktor.

Dieser schien die ungewöhnlich fleißigen Besuche seiner männlichen Mitglieder nicht außer der Ordnung zu finden. Er war ein schlauer Spekulant und hatte trotz der kurzen Zeit die Kantorstochter so gut kennen gelernt, daß er an dem Gelingen seiner Pläne nicht im Mindesten zweifelte. Alwine wurde daher, ohne daß sie es ahnte, in eine fein berechnete Behandlung genommen und fand nachher, von farbenprächtigen Bildern umgaukelt, nur spät erst den Schlaf.

Obgleich der Schnee noch auf den Feldern lag, aus den Gärten war er gewichen, und der Kantor begann nun, sich mit der Herstellung seiner Blumenbeete zu beschäftigen. Dabei bemerkte er in der unmittelbaren Nähe der Laube fremde Fußspuren, die seine vollste Aufmerksamkeit erregten. Er wußte, daß man sich von geheimen Zusammenkünften zwischen Heiner und Alwine erzähle, und es kam ihm der Gedanke, daß die Laube es sein könne, welche von ihnen dazu benutzt werde.

Er kroch hinein und untersuchte ihr Inneres auf das Sorgfältigste. Seine Bemühung war von Erfolg, denn am Boden lag eine Cigarrenspitze, die er sofort als das Eigenthum Heiners erkannte. Er legte sie wieder hin und verließ die Laube.

»Also so geht es hinter meinem Rücken her! Dem Burschen werde ich die Lust für allezeit vertreiben!«

Er lachte ingrimmig in sich hinein und begab sich wieder an seine Arbeit.

Am Abende besuchte er mit Alwine die Vorstellung, dann that er, als gehe er schlafen, schlich sich aber statt dessen hinab in den Garten. Zwar wußte er nicht, ob Heiner heut kommen werde, aber er hatte sich fest vorgenommen, alltäglich und so lange in der Laube Posto zu nehmen, bis er ihn atrappiren werde. Jetzt konnte Heiner allerdings noch nicht da sein; er hatte ihn im Theater gesehen und bemerkt, daß er am Schlusse desselben erst noch in die Gaststube getreten war. Darum beschloß er, sich in den hintersten Winkel der Laubhöhle zurückzuziehen und ruhig abzuwarten, was da kommen werde.

Am Ziele angekommen, bog er sich nieder und trat ein. Da fühlte er sich ergriffen, ein fürchterlicher Schlag schmetterte auf sein emporgerichtetes Gesicht nieder, ein Klirren wie von zerbrochenen Scherben folgte und dann ergoß sich eine Flüssigkeit über ihn, von welcher jeder Tropfen wie mit Messerschärfe in das Fleisch einschnitt. Er konnte nicht anders, ein fürchterliches Brüllen entquoll seiner Brust; dabei wollte er nach dem Uebelthäter fassen, griff aber in die Luft; er war verschwunden.

Alwine hatte die Stimme ihres Vaters erkannt und kam erschrocken herbeigeeilt.

»Vater, wo bist Du, was ist's?«

»Der Heiner, der Heiner! Halt ihn fest, er hat mich mit kochendem Wasser überschüttet. O meine Augen, meine Augen!«

Sie fiel in sein Rufen ein, so daß einige zufällige Passanten herbeigerufen wurden, die den vor Schmerz wimmernden Kantor in seine Wohnung brachten. Der Dorfbader wurde schleunigst gerufen und ein Bote in die Stadt zum Arzte geschickt. Es stellte sich heraus, daß das Gesicht des Ueberfallenen mit einem Gefäß zerschlagen worden war, in welchem sich eine scharfe, ätzende Säure befunden hatte, die von einer ebenso schnellen wie fürchterlichen Wirkung gewesen war. Das Gesicht bot einen entsetzlichen Anblick, und auch die Hände, mit denen er es unwillkürlich zu schützen versucht hatte, waren in ihren Fleischtheilen zerrissen und zerfressen.

Der Arzt, welcher von dem Boten die Art und Weise der Verletzung erfahren hatte, brachte gleich die geeigneten Medikamente mit, welche die Schmerzen wenigstens soweit stillten, daß der Kranke eine zusammenhängende Darstellung des Vorganges zu geben vermochte. Auf seine Forderung hin wurde der im Orte stationirte Gensdarm gerufen, der nach kurzem Verhör des Kantors sich trotz der späten Stunde zu Silbermanns begab.

Das Haus war verschlossen, und erst nach langem Klopfen wurde geöffnet. Es war der alte Vogelhändler selbst, der verwundert über die außergewöhnliche Störung im Flur stand.

»Was soll's sein?«

»Das werdet Ihr gleich hören! Ist Euer Sohn zu Hause?«

»Himmelelement, der Schandarm! Was wollt Ihr von dem Jungen?«

»Zunächst will ich wissen, wo er ist.«

»Nun wo anders denn als drob'n im Bett'!«

»So leuchtet mir einmal! Ich muß hinauf.«

»So? Hinauf müßt Ihr? Warum denn?«

»Nur immer vorwärts! Ich hab keine Zeit.«

»Na na na, da hinauf kommen wir heuer schon noch!«

Er leuchtete voran und öffnete die Kammerthür.

»Heiner, steh auf; hast' Besuch!«

Es wurde ihm keine Antwort. Er trat näher und blieb verwundert vor dem Bette stehen.

»Leer, wahrhaftig leer und kaane Seel' liegt drin!«

»Das hab ich mir gedacht,« bemerkte der Sicherheitsbeamte.

»Er hat doch gut' Nacht gesagt und ist heraufgegangen! wo mag er steck'n?«

»Das werde ich schon ausfindig machen!«

Er stieg die Treppe hinab und untersuchte jeden Winkel des kleinen Hauses.

»Aber warum sucht Ihr denn nach ihm?«

»Wegen ruchloser Körperverletzung.«

»Körperverletzung? Was hat er sich verletzt?«

»Sich nichts, aber Andern desto mehr.«

»Sich nix? Gut, dann bin ich zufried'n. Der Heiner ist kaan Raufbold, der ruchlos hinschlägt, wo er net hinschlag'n soll; freilich, wenn man ihm mit Absicht in die Quer kommt, so muß er sich wehr'n, das hab ich ihm selber gesagt, und nachher fackelt er auch net lang. Wen hat er denn vorgehabt?«

»Den Kantor.«

»Den? Wohl bekomm's; weiter sag ich nix.«

»So! Da wißt Ihr wohl auch von der Sache?«

»Ich waaß nix, als daß für den Kantor geklopfter Senf aan[734] heilsam Hausmittel ist. Aber was geht denn grad Euch die Geschicht' an, he?«

»Weil Anzeige gemacht worden ist. Habt Ihr hier im Hause Salpeter- oder Schwefelsäure?«

»Ich wüßt doch net wozu?«

»War Euer Sohn kürzlich in der Stadt?«

»Ja, gestern, in der Apothek'.«

»Ach so! Was hat er da geholt?«

»Krimmitattri.«

»Was ist das?«

»Na Krimmitattri, was denn anders? Ich muß ihn trink'n, weil mir sonst nix hilft geg'n den Kopfschmerz, den ich zuweil'n hab'.«

»Ach so, Cremor tartari meint Ihr.«

»Auf aan tari mehr oder weniger kommt's bei uns net an.«

»Und weiter hat er nichts gebracht?«

»Nein.«

»Ist die Kammer, in der er schläft, nur für ihn?«

»Ja.«

»So muß ich noch einmal hinauf!«

Während er in der Kammer nach einer Spur der Säure suchte, fand vor der australischen Laube eine heftige Unterredung statt.

Heiner hatte in seiner nach hinten gelegenen Kammer nichts von dem im Kantorsgarten statthabenden Wirrwarr gehört und war dann auf die gewöhnliche Weise und zur gewöhnlichen Zeit zum Stelldichein gegangen. Er hatte sich über die Scherben, die er am Boden der Laube fühlte, und auch über das Ausbleiben der Geliebten verwundert und stand eben im Begriff, nach langem Warten sein Versteck zu verlassen, als die Kantorstochter erschien.

»Heiner, um Gotteswill'n, Du bist noch hier!«

»Ja, aber ich wollt' eb'n gehn. Warum erschrickst' so darüber?«

»Weil die Polizei Dich sucht.«

»Mich? Unmöglich! Sag', weshalb?«

»Weg'n dem Vater, den Du mit Gift verbrannt hast. O Heiner, warum bist – – –«

»Mit Gift verbrannt?« fiel er ihr in die Rede. »Du phantasirst wohl, Alwin'!«

»So bist's net gewes'n?«

»Ist er denn verbrannt?«

»Ach, fürchterlich!«

»Wo denn?«

»Hier in der Laub'! Und nun ist der Gensdarm hinüber, um Dich zu arretir'n.«

»Mich? Gut' Nacht, Alwin'!«

Mit einem raschen Sprunge schwang er sich über den Zaun und stand nach wenig Augenblicken in seiner Wohnung vor dem Beamten.[735]

»Sie such'n mich?«

»Ja. Wo kommen Sie her?«

»Vom Kantorgart'n.«

»Was haben Sie dort gewollt?«

»Ich hab mit der Alwin' gesproch'n.«

»So! Wann sind Sie hinüber?«

»Dies waaß ich net genau. Ich hab in der Laub' gesess'n und auf sie gewartet. Denn erst jetzt hab ich von ihr erfahr'n, was passirt ist.«

»So, also erst jetzt – –!«

»Und daß Sie mich such'n. Drum bin ich gleich herüber gesprungen. Wer hat's gethan, Herr Gensdarm?«

»Das wird sich finden. Jetzt aber gehen Sie mit mir.«

»Wohin.«

»Nach der Stadt auf das Amt.«

»Also arretirt! Ich bin's aber doch net gewes'n!«

»Das zu ermitteln ist Sache des Untersuchungsrichters. Zunächst werde ich Sie einige Zeit beim Vorstand unterbringen, um den Thatort zu untersuchen. Ich hoffe, daß Sie mir keine Schwierigkeiten machen werden, die mich zu strengen Maßregeln veranlassen würden.«

»Wie soll das gehn?« frug jetzt der Alte erregt. »Zum Vorstand soll er geschleppt werd'n und nachher ins Amt? Und gethan hat er nix? Das woll'n wir 'mal sehn, da bin ich auch noch da, und wer mir den Heiner angreift, den – – –«

»Sei ruhig, Vater!« fiel Heiner ihm in die Rede. »Mit Zorn machst' die Sach' nur schlimm. Ich geh gutwillig mit, denn das ist das Best', was ich thun kann. Ich bin unschuldig und werd' gar bald wieder daheim sein bei Dir.«

»Ja, wenn Du selber willst, so muß ich ruhig sein; aber wenn ich Dich net schnell wieder hab', so komm' ich selber nach und lauf Sturm im Gericht!«

Heiner wurde abgeführt. Im Vorüberschreiten sah er die Wohnstube des Kantors hell erleuchtet, wo der Verletzte auf dem Sopha lag, an seiner Seite eine fremde Wartefrau. Alwine durfte nicht vor ihn; er hatte sie mit harten, drohenden Worten von sich gewiesen und ihr ein- für allemal verboten, sich vor ihm sehen zu lassen.

Sie saß in ihrer Kammer und weinte, und da es ihr hier zu traurig und einsam wurde, so ging sie zu Direktors, welche durch das Ereigniß wach gehalten worden waren und sie nach ihrer Weise zu trösten suchten.

Ueberhaupt zeigte der Prinzipal der Künstlertruppe sammt seiner ganzen Familie während der folgenden für das Mädchen allerdings schweren Zeit eine außerordentliche Theilnahme für dasselbe. Der Vater blieb unerbittlich gegen sie; er schob die ganze Schuld sei nes[748] Unglückes auf ihren Ungehorsam und gerieth fast in Raserei, wenn sie einen Versuch machte, sich ihm zu nähern. Auch vor Gericht wurde sie gefordert, um ihre Aussage zu thun, aber den Geliebten bekam sie dabei nicht zu sehen. Sie ahnte nicht, daß mit ihm ihr bester Schutz von ihr genommen sei. Vom Vater verbannt und nun auf sich selbst angewiesen, dachte sie nicht daran, beim Pfarrer oder sonst im Orte Anschluß zu suchen, sondern gab sich mit ungetheiltem Vertrauen Direktors hin, welche durch ihre Einflüsterungen einen Entschluß in ihr zur Reife brachten, dessen Tragweite sie nicht abzusehen vermochte.

So vergingen einige Wochen. Die Schauspieler hatten den Ort verlassen und sich, man wußte nicht wohin gewandt. Da erhielt sie einen Brief, den sie nach seiner Lesung sofort vernichtete. Er schien ihr eine schon erwartete frohe Botschaft gebracht zu haben, die sie veranlaßte, sich gar eifrig mit den fertigen Stücken ihrer Ausstattung zu schaffen zu machen. Sie verriegelte ihre Stube und begann einzupacken.

Während dieser Beschäftigung fiel ihr Blick durch das Fenster und auf eine bekannte Gestalt, welche, das Vogelgebauer unter dem Arme, drüben aus dem Häuschen trat, einen froh grüßenden Blick herüberwarf und dann in einen Querpfad einbog, der nach dem Walde führte.

»Der Heiner!« rief sie, halb froh, halb erschrocken. »Er ist frei, er ist wieder da; sie haben ihm nichts thun können! Soll ich noch einmal mit ihm sprechen? Ja, aber wissen darf er nicht, was ich vorhabe, sonst läßt er mich nicht fort von hier.«

Vom Vater unbeaufsichtigt, war es ihr jetzt leicht, das Schulhaus beliebig zu verlassen. Sie ging. Sie war mit Heiner als Kind oft im Walde herumgestrichen und kannte den Ort, wo er zu finden war. Den Berg emporsteigend, gelangte sie an eine Waldwiese, über welche der Blick frei schweifen konnte. Ihr Auge strich die Lichtung entlang und entdeckte den Gesuchten unter einer breitastigen Tanne, wo er im Moose lag. Sie eilte zu ihm hin.

»Heiner!«

»Alwin'!«

Er war emporgesprungen, hatte sie umfaßt und drückte sie mit einer Innigkeit an sich, welche vollständig Zeugniß gab von der Sehnsucht, mit welcher ihn nach ihr verlangt hatte.

»Bist' wieder frei?«

»Ja, aus Mangel an Beweis'n, wie sie sagt'n; aber ich werd' so lang such'n, bis ich entdeck, wer's gethan hat. Komm und setz' Dich zu mir nieder! Hast wohl auch nach mir verlangt, weil Du mir nachkommst so weit den Berg herauf?«

»Sehr, Heiner! Und ich konnt' herauf, weil der Vater denkt, ich bin den ganz'n Tag beim Pfarr' zum Besuch. Da kann ich bei Dir bleib'n, so lang als es mir gefällt, und das will ich auch thun, denn es läßt sich net sag'n, ob's gleich wieder so gut paßt.«

Sie ließen sich neben einander nieder und blieben da Stunde um Stunde, eine lange, lange Zeit. Er dachte nicht an seinen Vogel, sondern an nichts und niemand, als nur an sie, die heut so gut und zärtlich war wie noch niemals. Und als sie endlich doch ging und ihm verbot, sie zu begleiten, da sah er ihr noch tief, tief in die Augen und drückte Kuß um Kuß auf ihre willigen Lippen.

»Leb wohl, Heiner; das war der schönste Tag in meinem Leb'n!«

»Leb wohl, Alwin'; Dich und den Tag vergess' ich nie, nie, nie!«

Sie winkte zurück und er winkte ihr nach, bis sie hinter den Bäumen verschwunden war; dann legte er sich wieder zur Erde und träumte von künftigem Glück und künftiger Seligkeit, bis der hereinbrechende Abend ihn zum Aufbruch mahnte.

– – – Am andern Morgen verbreitete sich die Kunde, daß die Kantorstochter während der Nacht den Ort verlassen habe. Ein Tagelöhner hatte ihren Koffer bis zur nächsten Poststation gefahren, und niemand erfuhr, wohin sie gegangen sei, auch der Heiner nicht. An ihrem schönsten Tage war ihr Herz voll Verrath gegen ihn gewesen. Er konnte dies nie verwinden. – – –

Quelle:
Der Giftheiner. Eine Erzählung aus dem Erzgebirge von Karl Hohenthal. In: All-Deutschland! 3. Jg. 1879. Heft 20–25. Stuttgart (1879). Nr. 47, S. 748-749.
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